Der Wert eines Menschen

Bei der Rettung aus extremen Notlagen schaut die Solidargemeinschaft nicht aufs Geld, – der Mensch ist mehr wert. Was sind die Hintergründe? Und wird es so bleiben?

4. Das „Riesending“

Am 9. Juni 2014 ist etwas Unglaubliches geschehen: der Höhlenforscher Johann Westhauser verunglückte tief unter der Erde und kam in eine ausweglose Situation. Aber er wurde gerettet, was fast eine Million Euro kostete.

Westhauser stieg in eine riesige Höhle im sagenhaften Untersberg in den Berchtesgadener Alpen ein, die wegen ihrer Ausmaße „Riesending-Höhle“ genannt wird. Er wurde durch einen Steinschlag verschüttet, blieb schwer verletzt stecken. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich schnell und seine Überlebenschancen hingen allein davon ab, ob sich andere höhlenerfahrene Menschen bereit finden würden, zu ihm hinabzusteigen, ihn zu suchen, aus den Gesteinsmaßen zu befreien und in seinem schwer verletzten und schwer transportablen Zustand ans Tageslicht zu transportieren.

Tatsächlich machten sich sieben internationale Rettungsteams in das „Riesending“ auf, fanden und retteten den schwer verletzten Forscher. Obwohl Westhauser mehrere Herzstillstände hatte und jedes Mal in der Höhle unter widrigsten Bedingungen wiederbelebt werden musste, gelang es nach sechs Tagen, ihn der Höhle zu entreißen. Über 700 Menschen wirkten an seiner Rettung mit.

«Die haben dort geschuftet, die haben dort Höchstleistungen gebracht. Die Besten der Höhlenrettung in Europa waren hier versammelt.» (1)

Das sollten Sie verstehen: Westhauser ist in diese Höhle eingestiegen, weil ihn die Herausforderung reizte, weil er Lust dazu hatte. Ob er an die Folgen gedacht hat, weiß man nicht, um Erlaubnis hat er jedenfalls niemanden gefragt. Und wie das Kind im Brunnen, bzw der Westhauser in der Höhle verschüttet war, wurde er heraus geholt. Das kostete Einsatz, großen Mut und nach der Berechnung des für Berchtesgaden und damit auch für das „Riesending“ zuständigen bayerischen Innenministeriums 960.000 Euro. Also fast eine Million, unter anderem für Hubschraubereinsätze, Material der Bergwacht sowie Lohnzahlungen für die Ehrenamtlichen. (2)

Das hat der Freistaat Bayern gewuppt. Ob das in Ihr politisches Weltbild passt oder nicht. Bayern! Nicht irgendwelche human-rights-Aktivisten! Nein. Die bayerische Landesregierung hat die Aktion geleitet, die bayerischen Steuerzahler haben die Kosten getragen. Niemand hat gefragt, ob man diese Kosten aufwenden solle, Westhauser wurde einfach gerettet. Er war das unserer Gesellschaft wert. Solidarität nennt man das!

Sehen Sie diesen Enthusiasmus kritisch? Hätten Sie persönlich den Westhauser in seiner Höhle gelassen? Ausgerechnet ein Höhlenforscher, ein Spinner! Dann wäre er sicher bald gestorben, weil man ihn nicht acht Male hätte wiederbeleben können! Ich persönlich halte es hier ganz klar mit der Solidarität der Bürger des Freistaats, trotz meiner mehr als vorsichtigen Distanz zu den politischen Auffassungen seines Ministerpräsidenten.

Inzwischen geht es dem Westhauser wieder gut und er ist inzwischen schon wieder in Höhlen eingestiegen. Typisch Höhlenforscher, würden Menschen sagen, die ähnlich gefährliche Hobbies betreiben. Als begeisterter Skifahrer würden Sie nach einem Skiunfall auch wieder Ski fahren, aus psychologischer Sicht sollten Sie es sogar, um kein Vermeidungsverhalten zu entwickeln. Aber natürlich könnten Sie als Skifahrer oder Höhlenforscher auch wieder verunglücken.

Und nach den Regeln der Solidargemeinschaft werden Sie dann auch wieder gerettet. Kein Gesetz schreibt vor, dass wir nach so einem Rettungseinsatz auf unsere Hobbies verzichten müssen. Allerdings: Wie würde die Solidargemeinschaft wohl reagieren, wenn es nicht der Höhlenforscher Westhauser wäre, sondern ein verirrter syrischer Flüchtling, der im Untersberg abgestürzt wäre? Wäre der auch eine Million wert gewesen? Eine ungewöhnliche Vorstellung, sonst ertrinken Flüchtlinge ja eher. Die gehören ja auch nicht zu unserer Solidargemeinschaft. Aber sind sie nicht auch Menschen?

5. Warum ist uns ein Mensch eine Million wert?

Ist die Erforschung von Höhlen für unsere Gesellschaft so wichtig? Bei allem Respekt vor den Höhlenforschern – eher nicht.

Eine andere Möglichkeit wäre, dass das Leben des Einzelnen für unsere Solidargemeinschaft deshalb für so wertvoll angesehen wird, weil jeder davon ausgeht, dass auch er im Ernstfall so hoch bewertet, – und eben gerettet würde.

Tatsächlich beruhte unser Gesundheitswesen bis vor kurzem auf dieser Annahme. Auch wenn die Solidarität dort meist nicht Westhauser´sche Ausmaße erreicht, bestimmt der Wert des Einzelnen das Handeln in der Medizin sehr weitgehend. Einerseits.

Andererseits gibt es Hinweise, dass die Solidarität bröckelt. In einer Fortbildung für evangelische Pfarrer meldete sich einer, der Rettungswagenfahrer betreut. Rettungswagenpersonal ist als erstes vor Ort, – bei Unfall, Herzinfarkt, Schlaganfall, und so weiter. Neuerdings käme es schon manchmal zu Diskussionen, ob der ganze Rettungsaufwand pro Person denn überhaupt gerechtfertigt sei. Bei über 80-jährigen brauche man doch gar nicht mehr die Intensivstationen anzufahren.

Der Wahrheitsgehalt solcher Erzählungen ist schwer zu überprüfen, aber für ganz unwahrscheinlich halte ich das nicht: So eine Haltung ist wahrscheinlich nicht auf dem Mist von Rettungssanitätern gewachsen, denn die sind so sozialisiert, dass sie Leben retten wollen. Aber im Umfeld der Medizin haben sich so viele fremde, am finanziellen Gewinn orientierte Gedanken breit gemacht, dass es fast schon ein Wunder wäre, wenn diejenigen nicht davon angekränkelt würden, die eigentlich dafür da sind, Menschen ohne Ansehen ihrer Person, ihres Geschlechts oder Alters zu retten.

Gibt es andere Maßstäbe für den Wert des Menschen, als die Solidarität?

Hier gelangen Sie zur Übersicht aller bisher veröffentlichten Kapitel.

Quellen:

  1. de.wikipedia.org: Rettungsaktion in der Riesending-Schachthöhle
  2. Spiegel-online vom 15. 8. 2015: Rettung von Höhlenforscher kostete fast eine Million Euro