Einzigartig – mit und ohne Nobelpreis

Zugegeben, – um ein Gespräch über den Wert des Menschen zu beginnen, sind Rettungseinsätze in Höhlen oder auf Intensivstationen vielleicht etwas ungewöhnlich. Gewöhnlich sind auch Nobelpreise allerdings ganz und gar nicht. Und doch sind die einzigartigen Geehrten gleichzeitig ganz gewöhnliche Menschen.

6. Dem russischen Rowdy sah man den Nobelpreis nicht an.

Wer etwas Herausragendes für die Menschheit getan hat, erfahren wir alle Jahre wieder bei der Bekanntgabe der Nobelpreisträger. Denn Alfred Nobels Stiftung „… shall constitute a fund, the interest on which shall be annually distributed in the form of prizes to those who, during the preceding year, shall have conferred the greatest benefit to mankind…?“ (1)

Wert wird ganz eindeutig als „Wert für die Menschheit“ definiert und mit Geld honoriert, denn Alfred Nobel war Industrieller mit unbezweifelbaren Fähigkeiten auf dem Gebiet des Gelderwerbs.

Und nun fragen Sie sich bitte, ob der mit folgenden biografischen Daten beschriebene Mensch dem hehren Ziel aus Nobels Text entspricht:

  • Er wurde in Leningrad als einziger Sohn jüdischer Eltern geboren. Sein Vater war Fotograf, die Mutter arbeitete im Krieg als Dolmetscherin, später als Buchhalterin. Er verließ die Schule in der neunten Klasse, im Alter von 15 Jahren. (Wenn Ihr Sohn, Ihre Tochter die Schule zu diesem Zeitpunkt verlassen würden, fänden Sie das wohl auch ziemlich einzigartig, aber wohl kaum im positiven Sinn.)
  • Danach arbeitete er als Fräser, Labor- und Fabrikarbeiter, Krankenhausangestellter und Teilnehmer an geologischen Expeditionen.
  • Im Selbststudium lernte er Polnisch und Englisch und schrieb Ende der 1950er Jahre erste eigene Gedichte, übersetzte ausländische Gedichte. Mit diesen Aktivitäten geriet er ins Visier der russischen Politik, die ihm „Parasitentum“ vor warf. Man behauptete, er hätte die Entführung eines Flugzeugs geplant, um damit ins Ausland zu gelangen.
  • 1964 wurde er zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt! Nach 18 Monaten, die er in der Gegend von Archangelsk – sehr nördlich, sehr östlich und sehr kalt! – zubringen musste, wurde er entlassen.
  • 1972 bürgerten ihn die russischen Behörden aus der Sowjetunion aus und setzten ihn, nachdem ihm zuvor alle Manuskripte abgenommen worden waren, in ein Flugzeug nach Wien. Er kam mit einem Koffer und 50 Dollar in der Tasche an.

Stellen Sie sich vor, Sie wären der österreichische Einwanderungsbeamte, der ihm in Wien begegnete! Wäre Ihre Einschätzung, dass da ein mittelloser Flüchtling mit nicht beweisbarer Vergangenheit als Gedichteschreiber erschien, so abwegig gewesen? Unfreundlicher, oder sagen wir – zeitgemäßer – ausgedrückt, ein Versager, dessen Kosten dem österreichischen Staat aufgebürdet werden sollten? Seien Sie ehrlich: hätten Sie seinen Wert für die Menschheit geahnt? Der österreichische Staat musste übrigens nicht lange für ihn zahlen, denn er zog schnell weiter, nach England und dann in die USA.

Rückblickend finde ich schon, dass man seine Einzigartigkeit hätte wahrnehmen können, denn Joseph Brodsky, Literaturnobelpreisträger des Jahres 1987, – um den handelt es sich – strahlt auf Fotos ein inneres Leuchten aus. Vielleicht hätten Sie es als starke Erfahrung erlebt, ihn persönlich kennen gelernt zu haben, denn ganz offensichtlich hatte er Charisma. Das verspürte auch HW Auden, noch so ein einzigartiger Dichter, der sich um ihn bei seinen ersten Schritten im Westen kümmerte. Die Ausbürgerung hatte keine negative Wirkung auf seine poetische Begabung, die sich auch im völlig anderen Sprach- und Kulturkreis so energisch durchsetzte, dass er nach 15 Jahren den Literaturnobelpreis bekam. Um ein Gespür für seine dichterische Kraft zu bekommen, sollten Sie vielleicht seine „Römischen Elegien“ (2) lesen, oder das „Ufer der Verlorenen“. (3) Italien und besonders Venedig hatten es ihm angetan. Sehr Grundsätzliches bespricht er in „Der sterbliche Dichter. Über Literatur, Liebschaften und Langeweile.“ (4)

Wir lernen, dass eine Biografie als russischer Rowdy oder mittelloser Abgeschobener eines totalitären Systems die spätere Wertbekundung durch einen Nobelpreis keineswegs verhindert. Welche Einzigartigkeit sich hinter solchen Äußerlichkeiten verbirgt, sieht man eben nicht. Ebenso wie ein Leben im französischen Ghetto und ein Knochenjob als Straßenarbeiter nicht ausschließen, dass einer später Fußballer des Jahres und Gewinner der Champions League wird (Frank Ribery), oder ein Job als Schwimmlehrer bei der Navy eine internationale Karriere als Schauspieler und Regisseur (Clint Eastwood). Auch wenn diese Formen öffentlicher Anerkennung einem Nobelpreis nicht unbedingt gleichzusetzen sind, haben diese Menschen es immerhin zu Ansehen und Reichtum gebracht, obwohl sie aus kleinsten Verhältnissen kamen. Zu ihrer Zeit war die Welt auch noch in Ordnung.

7. Menschen sind einzigartig, mit und ohne Nobelpreis.

Einzigartige Menschen. Sie!

Schauen Sie sich die Menschen genau an! Ihre Mimik. Wie sie sich bewegen. Hören Sie ihnen zu. Achten Sie auf Gefühle, die sie in Ihnen auslösen. Ich bin immer wieder erstaunt, wie vielfältig Menschen sind, wie originell, wie komplex. Und wie verrückt auch die sogenannten „Normalen“ sein können! Alle sind einzigartig. Dabei keineswegs durchwegs gut, das reine Herz ist nicht jedermanns Sache. Menschen lügen und tricksen, dass sich die Balken biegen, Politiker, Banker, aber auch der sogenannte kleine Mann. Die entsprechenden Frauen auch. Andere wieder sind von großer Selbstlosigkeit und Sanftheit und versuchen, die Ungerechtigkeiten des Lebens auszugleichen.

Im Potential der vielen Einzigartigen liegt die Chance der Menschheit. Finden Sie, das klingt überzogen? Was für eine Chance? Auf Neues, auf Entwicklung, vielleicht auch auf Rettung, – so beruhigend ist ja nicht, was der Mainstream hervorbringt. Vielleicht könnte es eben doch gerade weitergehen mit uns, den Menschen, weil es einen kreativen Widerspruch zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv gibt. Trotz der auch in den sozialen Medien ständig präsentierten Forderung nach Konformität, nach Anpassung!

In diesen harten Zeiten sind wir auf Originelles angewiesen: „The reasonable man adapts himself to the world; the unreasonable one persists in trying to adapt the world to himself. Therefore all progress depends on the unreasonable man.“ (5)

Könnten diese Unvernünftigen, die Shaw meint, beispielsweise Widerstand leisten gegen die alles dominierende Pseudovernunft der Finanzökonomie? Und uns so Alternativen zu diesem grässlichen Irrweg zeigen, der die Einzelnen und die Menschheit ruiniert?

Ändern Sie Ihr Leben: Ihnen nützt nicht, was Ihr, oder vielmehr das Geld der Wenigen vermehrt, sondern was Vielfalt, Originalität, Staunen, Verblüffung, hervorbringt! Denn daraus entstehen Friede, Wohlergehen, Gesundheit! Für möglichst viele, die dann unsere Welt aus dem Schlamassel retten, in das wir sie in den letzten Jahrzehnten durch unsere Gier nach dem Geld bewegt haben. Utopie?

Hier gelangen Sie zur Übersicht aller bisher veröffentlichten Kapitel.

Quellen:

  1. Nobelpreis.org: Full Text of Alfred Nobel’s Will
  2. Römische Elegien und andere Gedichte, 1985, Hanser Verlag  ISBN 978-3-446-13651-9
  3. Ufer der Verlorenen, 2001, Hanser Verlag, ISBN 978-3-446-20028-9
  4. Der sterbliche Dichter, 1998, Hanser Verlag, ISBN 978-3-446-19282-9
  5. G. B. Shaw: Man and Superman, 1903