Vielleicht kommt Ihnen die Faszination, welche die Einzigartigkeit menschlicher Individuen auf mich ausübt, etwas abgehoben vor, losgelöst von den alltäglichen Realitäten. Tatsächlich sind wohl eher diese sogenannten Realitäten abgehoben, denn unser aller Einzigartigkeit ist eine sehr solide Tatsache, festgemauert in den Genen.
8. Sie gibt es nicht noch mal.
Menschliche Einzigartigkeit ist nicht in erster Linie ein Thema der Philosophie oder Moral, sondern der Biologie. Die Unverwechselbarkeit eines Individuums ist genetisch bedingt und wird durch die Immunologie umgesetzt.
Der heute aktive genetische Pool des sogenannten Homo sapiens ist wahrscheinlich in Afrika vollendet worden, von wo unsere Vorfahren nach Europa und Asien auswanderten. Wir stammen also aus Afrika. Dort war die Quelle des unglaublichen Potentials, das zu all dem führte, was Menschen geschaffen haben! – Vor diesem Hintergrund finde ich es übrigens schon irgendwie komisch und beklemmend, dass so viele die heutigen Afrikaner mit allen Mitteln daran hindern wollen, nach Europa zu kommen.-
Aus dem genetischen Pool Ihrer Herkunftsfamilien ist durch die Kombination Ihrer Gene ein Unikat entstanden, – Sie! Als Unikat ähneln Sie Mutter und Vater, auch mehr oder weniger den Geschwistern, aber letztlich sind Sie doch absolut einzig. Wie sehr einzig, merken Sie ganz unmittelbar, wenn Sie in die Notlage kommen, ein Organ, das Ihnen seinen Dienst aufgekündigt hat, durch eine Organspende eines anderen Menschen ersetzen zu müssen.
Nehmen wir an, Sie bekommen einen Virusinfekt, eigentlich eine banale, alltägliche Angelegenheit. Aber bei Ihnen wird Ihr Herzmuskel von dem Virus angegriffen und zerstört. Warum ausgerechnet Ihnen so etwas passiert, wissen wir nicht. Aber es kommt vor, immer häufiger auch bei jungen Menschen. Ihr Herz wird dann immer schwächer, bis es seine Aufgabe, das Blut durch die Lunge zur Aufladung mit Sauerstoff und dann durch den Körper zu pumpen, – jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde, – nicht mehr erfüllen kann. Sie können sich nur noch mit Mühe bewegen, nur noch liegen, bald werden Sie sterben. Es sei denn, Sie bekämen ein Herz transplantiert. Das geht aber nur, wenn ein anderer Mensch, der sehr häufig Motorradfahrer ist, erstens einen so schweren Unfall hat, dass sein Gehirn nicht mehr, aber Herz, Leber etc. durchaus noch lebensfähig sind, und zweitens vor seinem Unfall vorausschauend solidarisch war und eine Organspendenerklärung unterschrieben hat.
Der chirurgisch-handwerkliche Teil einer Organtransplantation setzt große Geschicklichkeit und Erfahrung voraus, ist aber nicht der limitierende Faktor. Die enorme Schwierigkeit liegt darin, einen geeigneten Spender zu finden. Denn das in Sie transplantierte Organ eines anderen ist für Ihr Immunsystem fremd, es sei denn, der Andere wäre Ihr eineiiger Zwilling, der Ihnen genetisch gleicht. Jeder andere Spender ist immunologisch zweite oder dritte Wahl, und in diesem Fall müssen immunsuppressive Behandlungen Ihr Immunsystem so weit schwächen, dass es das transplantierte Organ nicht mehr angreift. Was mal besser und mal schlechter gelingt und mit dem Preis einer generell geschwächten Immunabwehr, also vermehrten Infekten und leider auch einer erhöhten Neigung zu Tumoren bezahlt wird.
Bei fehlender Übereinstimmung attackiert Ihr Immunsystem dieses Organ so lange, bis es aus Ihrem Organismus abgestoßen, d.h. vernichtet wird. Anders ausgedrückt: wenn das für Sie doch so kostbare, lebenswichtige Herz Ihrer Einzigartigkeit nicht entspricht, akzeptiert Ihr Immunsystem es nicht und lässt Sie eher sterben, als dass es das, als fremd erkannte Organ tolerieren würde! Das biologische Prinzip der Einzigartigkeit wird offenbar wesentlich rigoroser durchgesetzt, als alle moralisch-philosophischen Konzepte.
Aber auch gegenüber einem genetisch identischen eineiigen Zwilling, sind Sie einzigartig. Das liegt an Ihren Erfahrungen und ihrem Einfluss auf die Genexpression.
9. Kann man Genetik denn verändern?
Lange Zeit dachte man, dass genetische Information quasi fest verdrahtet wäre und sich während des ganzen Lebens nicht verändern würde. Heute wissen wir, dass Gene an- oder ab-„geschaltet“ werden können.
Diese Geschichte hat zwei Seiten, eine schöne, menschenfreundliche und eine schreckliche. Die schöne Seite zeigt die Lebensgeschichte von Eric Kandel. (1) Schon wieder so ein Nobelpreisträger, aber obwohl er wunderbare Bücher schreibt, nicht für Literatur, sondern für Medizin. Seine Interessen waren, vorsichtig ausgedrückt, sehr divergierend und wer glaubt, dass Karrieren stromlinienförmig auszusehen haben, wird ihn wohl für etwas verrückt halten. Er hat Psychoanalyse gelernt, – diese orthodoxe Form der Psychotherapie, bei der Sie auf der Couch liegen und in Ihren Assoziationen das Unbewusste zur Sprache bringen. Anstatt als Analytiker und Therapeut sein Leben zuzubringen, beschloss er, den Zusammenhang zwischen Psychotherapie und Gehirn zu ergründen, indem er die Funktion einzelner Nervenzellen an der Meeresschnecke Aplysia, dem Seehasen erforschte. Zellforscher wie Therapeuten hielten diese Kombination aus Fragestellung und Methode nicht für zielführend, vorsichtig ausgedrückt, aber Kandel ließ sich nicht beirren. Er machte Umwege, musste Durststrecken überwinden, und hat schließlich ein Modell für das Lernen entdeckt. Das erklärt unter anderem, was sich bei Psychotherapie verändert, wenn sie nachhaltig wirksam ist. Denn bei sehr grundlegenden Erlebnissen und Erfahrungen verändern sich die elektrischen Entladungsmuster einzelner Nervenzellen bleibend, – indem sie einzelne Gene, die Ionenkanäle regulieren, an- oder abschalten! Die Erkenntnis war verblüffend und neu, man glaubte ja bis dahin, dass die genetische Information eines Lebewesens unveränderbar sei. Mit seinen Befunden zeigte Kandel, dass Erfahrung und Genetik keine Gegensätze, sondern zwei Seiten der biologischen Einzigartigkeit sind.
Grundlegende Erfahrungen machen Sie aber nicht nur in der Psychotherapie, sondern auch im realen Leben, und das bringt uns zur schrecklichen Seite der Epigenetik, die aus Krieg, Folter und Katastrophen besteht. (2)
Eine schreckliche Version hat mit der deutschen Art der Kriegsführung im 2. Weltkrieg zu tun: als strategische Maßnahme zur Zermürbung der Bevölkerung blockierte die Wehrmachtsführung die Nahrungszufuhr. In Leningrad 1941/42 und in den Niederlanden 1944/45 litten die Menschen furchtbaren Hunger, viele von ihnen verstarben, manche überlebten nur, indem sie sich – Holland! – zum Beispiel von Blumenzwiebeln ernährten.
Unter den Überlebenden waren auch schwangere Frauen, die irgendwann danach ihre Kinder bekamen. Und obwohl diese Kinder nicht mehr hungern mussten, weil der Krieg oder die Belagerungsphase ja vorbei war, hatten sie signifikant häufiger eine Stoffwechsellage, die sie für den Diabetes anfällig machte, also eine Zuckerkrankheit, bei der die Inselzellen der Bauchspeicheldrüse zu wenig Insulin produzieren. Offenbar waren in der Hungerphase bei den Embryonen Gene angeschaltet worden, die während der Mangelernährung eine optimale Nahrungsausnutzung erlaubten, aber das Nahrungsangebot in normaleren Zeiten nicht mehr bewältigen konnten. In Russland, wo es nach der Hungerphase weniger Nahrung gab, als in den Niederlanden, war dieser Effekt weniger stark ausgeprägt, d.h. weniger Kinder erkrankten an Diabetes.
Das Fazit beider Geschichten ist Folgendes: Wenn wir gravierende Ereignisse erleben, die uns seelisch und/oder körperlich an unsere Grenzen bringen, kann der Aktivitätszustand unserer Gene bleibend verändert werden, was Krankheiten, – oder auch ihre Heilung bedingen kann. Wo die Schwelle für die Aktivierung epigenetischer Mechanismen liegt, wissen wir nicht genau. Aber sie scheint auf jeden Fall durch Ereignisse überschritten zu werden, die post-traumatische Störungen verursachen, Kriege, lebensbedrohliche Situationen, die Flucht über das Mittelmeer, wenn neben mir nahestehende Menschen ertrinken. Es ist also nicht nur so, dass solche Ereignisse furchtbar schwer zu überleben und zu ertragen sind, sondern sie verändern die seelische und körperliche Ausstattung, Ihre Persönlichkeit und die Ihrer Kinder und Kindeskinder nachhaltig. (3) Und machen so Ihre Einzigartigkeit aus. Die hat also mindestens zwei Wurzeln, die Genetik und das, was Sie und Ihre Vorfahren erlebt haben.
Hier gelangen Sie zur Übersicht aller bisher veröffentlichten Kapitel.
Quellen:
- Eric Kandel: Auf der Suche nach dem Gedächtnis, Goldmann 2014, ISBN 978-3-442-15780-8
- Elbert, T. & Schauer, M. (2014). Wenn Gegenwart zur Illusion wird. Spuren belastender Lebenserfahrungen in Genom, Gehirn und Geist. Nova Acta Leopoldina NF, 120(405), 3-19.
- A.S. Zannas, N. Provencal, E. B. Binder, Epigenetics of Posttraumatic Stress Disorder: Current Evidence, Challenges, and Future Directions, Biological Psychiatry 78,5, 327-335, 2015