Wie geht man sinnvoll mit den vielen Einzigartigen um? Man nimmt ihre Einzigartigkeit ernst.
11. Wer ist schon durchschnittlich?
Der Durchschnitt ist ein mathematisches Konstrukt zur Vereinfachung der Welt. Seine Berechnung schafft die Möglichkeit, die vielen Einzigartigkeiten dieser Welt auf ihre Gemeinsamkeit reduzieren zu können. Aber das reale Leben von konkreten Menschen bildet eine Betrachtung des Durchschnitts nicht ab. Weil die Berechnung des Durchschnitts die individuelle Variabilität nivelliert, entfernt sie aus dem zwischenmenschlichen Kontakt das, was die einzelnen Menschen wirklich interessant macht, und es entsteht der Eindruck, nur das allen Gemeinsame, nur das Verbindende, sei wichtig. Die ausschließliche Betrachtung des Durchschnittlichen wirkt sich im realen Leben nachteilig auf die Befriedigung der Bedürfnisse konkreter Menschen aus.
Nehmen wir an, eine Pharmafirma sucht ein Medikament, das Menschen mit Depressionen helfen könnte. „Die“ Depression gibt es ebenso wenig wie „den“ Durchschnitt, sondern jeder Depressive hat unterschiedliche Symptome, unterschiedliche Aspekte des Verlaufs, der Häufigkeit, der Kombination mit anderen Störungen. Deswegen sollte ein brauchbares Antidepressivum die meisten und wesentlichen Symptome verschwinden lassen, ohne besonders gravierende unerwünschte Wirkungen zu haben.
Auch das Muster aus unerwünschten Wirkungen ist bei jedem Menschen, der an Depressionen leidet, anders. Das könnten Patienten und Ärzte tolerieren, wenn diese Unterschiede vorhersagbar wären, wenn Ihnen Ihr Psychiater also sagen könnte, dass bei Ihnen dieses oder jenes Medikament wirksam sein wird. Aber weder die erwünschten, noch die unerwünschten Wirkungen eines konkreten Medikamentes sind bei einem bestimmten Patienten, also zum Beispiel bei Ihnen, vorhersagbar, sondern es bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als auszuprobieren, welches Medikament wie wirkt und welche unerwünschten Wirkungen es hat. Zum Beispiel wirkt auch das beste Antidepressivum nur bei 60% der depressiven Patienten: 40 % zeigen keine Wirkung einer Substanz, deren Wirksamkeit in offiziell anerkannten Studien nachgewiesen wurde. Der Psychiater, an den Sie sich in Ihrer Not um Hilfe wenden, muss Ihnen sagen, der Sie u. U. schwer unter Ihrer Depression leiden: die Chance, dass das Medikament, das ich Ihnen jetzt nach bestem Wissen und Gewissen gebe, wirkt, beträgt 60%, nach frühestens zwei Wochen werden wir sehen, ob wir Sie vielleicht auf ein Präparat mit anderem Wirkmechanismus umstellen müssen.
Würden Sie ein Auto kaufen, von dem Ihnen der Verkäufer sagt, dass es nur zu 60 % wirklich anspringt? Tatsächlich leben Patienten und Ärzte bei der Depressionsbehandlung seit vielen Jahren mit dieser Situation.
Ein anderes Beispiel: Wenn Sie schlecht schlafen, haben Sie die Möglichkeit, sich ein schlafanstoßendes Antidepressivum verschreiben zu lassen. Herkömmliche „Schlafmittel“ dürfen Sie nicht nehmen, da Sie sich schnell daran gewöhnen und abhängig werden. Irritierend ist, dass sich auch hier die passende Dosierung nicht voraussagen lässt: eine achtzigjährige Dame braucht u.U. 3 Tabletten, um sechs Stunden schlafen zu können, während ein 30-jähriger Mann mit einer Tablette 12 Stunden schläft und dann immer noch müde ist. Es kann aber auch umgekehrt sein. Viele Patienten kommen zwar mit durchschnittlichen Dosierungen zurecht, aber es gibt immer wieder Menschen, die nicht mehr als ein Fünftel der „normalen“ Dosis gerade so tolerieren.
Selbst ein so alltäglicher Vorgang, wie das Einschlafen lässt sich also nicht mit einfachen pharmakologischen Kochrezepten in den Griff bekommen und ist bei jedem anders. Denn es geht um individuelle, nicht um durchschnittliche Menschen. Natürlich gibt es Patienten, die dem Mittelweg entsprechen. Aber es gibt auch die anderen. Und wenn Ärzte in ihrem Zeitmangel und Alltagsstress nur noch den Durchschnitt für plausibel halten, so führt das unvermeidlich zur Geringschätzung der individuellen Person, deren Symptomschilderung der Arzt nicht glauben mag, weil es nicht seinen durchschnittlichen Vorstellungen von der Pharmakologie medizinischer Symptome entspricht.
Innovative Mediziner schlagen deshalb schon lange eine „personalisierte“ Medizin vor: durch Bestimmung genetischer, epigenetischer und hormoneller Muster realistische, d.h. nicht durchschnittliche, sondern individuelle Patientenprofile zu erstellen, die es erlauben, den einzelnen einzigartigen Patienten auf den Punkt zu behandeln, – in der ganzen Medizin, zum Beispiel um die Bedeutung der immer (!) individuellen Stressfaktoren zu entdecken (1), im Bereich der Psychiatrie (2), und auch in der Krebstherapie (3).
In der Krebsmedizin wird dieser Ansatz schon oft umgesetzt, aber wenn sie Ihren Psychiater in den maximal 10 Minuten, die Ihnen in unserem Kassensystem bleiben, auch noch fragen, ob er diese neue personalisierte Depressionstherapie kenne, wird er Sie allenfalls erstaunt, wahrscheinlich aber genervt anschauen. Denn falls er noch Zeit zum Lesen von Fachliteratur hat, die Zeit, an Ihnen so etwas auszuprobieren, hat er sicher nicht mehr! Sollte es anders sein, haben Sie ziemliches Glück.
Vielleicht wird auch für Sie deutlich, dass die an sich wertfreie Praxis, Durchschnittsbetrachtungen anzustellen, allenfalls der Statistik, aber nicht dem einzelnen Individuum gerecht wird. Medizinische Praxis, die sich auf den Durchschnitt zurückzieht, anstatt wenigstens den Versuch zu machen, der irritierenden Einzigartigkeit des Individuums gerecht zu werden, bleibt ziemlich weit hinter den Möglichkeiten zurück, die uns die moderne Forschung zur Verfügung stellt!
Hier gelangen Sie zur Übersicht aller bisher veröffentlichten Kapitel.
Quellen:
- Hellhammer D & Hellhammer J (2011). – Stress Medicine: From Bench to Bedside. In: CL Cooper & AS Anoniou (Eds.), New Directions in Organisational Psychology and Behavioural Medicine (p. 63-76). Ashgate Publishing Ltd.
- Keck M, Holsboer F: Behandlung nach Maß, Gehirn und Geist, Dossier 1, 2016
- Siegmund-Schultze, Nicola: Personalisierte Medizin in der Onkologie: Fortschritt oder falsches Versprechen? Deutsches Ärzteblatt 2011; 108(37)