Dass Menschen einzigartig sind, prädestiniert sie ganz besonders für den Kontakt mit anderen. Man könnte sagen, dass die Stärke von uns Menschen gerade im Zusammentreffen unterschiedlicher Einzigartiger liegt.
10. Allein überleben die Einzigartigen nicht.
Einzigartigkeit reicht allein nicht fürs Überleben. Das zeigt ja schon die Geschichte von Westhauser. Auch in der Welt, aus der unsere Vorfahren kamen, hätte die Autonomie der Ichs kaum fürs Überleben gereicht. Das hat sich bis heute nicht geändert. Ein autonomes Ich muss es also in der Vergangenheit geschafft haben, mit anderen autonomen Ichs auszukommen und, besser noch, zu kooperieren. Bis heute liegt in unserer Fähigkeit zu sozialen Kontakten unsere Chance. Wir Menschen sind zum Zusammenleben prädestiniert, ja mehr noch, die Mechanismen der Kooperation lassen sich als Grundsteine unserer Moral verstehen!
Michael Tomasello, der langjährige Direktor des Max-Planck-Instituts für Anthropologie in Leipzig, hat beschrieben, wie menschliche Moral entstanden sein könnte, – zu einer Zeit, als definitiv niemand in der Lage war, allein zu überleben. Seine Forschung legt nahe, dass Moral als Regelwerk menschlichen Zusammenlebens nicht eine abstrakte Kopfgeburt ist, die bei Bedarf jederzeit zu ändern wäre, sondern eine elementare Konsequenz aus der Begegnung zweier Menschen.
Obwohl die damaligen Zeiten zweifelsohne hart waren, ist die Eignung zum Zusammenleben nicht allein aus Zwang und Not erwachsen. Sondern angeregt aus dem zwischenmenschlichen Interesse, aus der verblüffenden Wahrnehmung, dass da eine Person ist, deren Andersartigkeit mein Interesse weckt und deren Sicht der Welt ganz nebenbei Lösungsvorschläge gemeinsamer Probleme vermittelt, die ich aus meiner individuellen Sichtweise nicht finden würde. Das Besondere am Menschen ist seine Fähigkeit zur gemeinsam geteilten Aufmerksamkeit, zur „shared attention“ (1):
„… Sie macht das menschliche Weltverhältnis so einzigartig. Wenn ich auf diesen Stuhl zeige – oder eine Antilope -, nehmen wir sie beide wahr. Und beide natürlich anders. (!) Und damit ist schon entscheidendes geschehen. Denn damit begreife ich ja schon- sonst würde meine Zeigegeste ja gar keinen Sinn machen-, dass meine eigene Perspektive auf die Welt nur eine unter anderen ist. Nach dem Motto: „Oh, ich sehe die Welt so, und du siehst sie so…“
Und möglicher Weise ist die Perspektive des Anderen gerade die entscheidende Variante, die den Ausweg aus einer Sackgasse präsentiert. Spezifisch menschlich wäre also, dass uns der andere erst verwundert, vielleicht irritiert, dann unser Staunen und schließlich unser Nachdenken hervorruft. Ich finde das eigentlich sehr hübsch!
Tomasello nimmt an, dass sich daraus die emotional-kognitive Grundlage der „Wir-Haltung“ entwickelt: von oben auf Situationen schauen, in denen es um den anderen und um mich geht, nicht aus der „Ich“- oder „Er“-, sondern aus der Wir-Perspektive! Das erlaubt uns, kritische Lebenssituationen, – wem gehört die gefundene Nahrung, wer hat Anteil an dem gejagten Wild, – in einer für die Gemeinschaft sinnvollen und tragfähigen Weise zu lösen. So kommt der Egoismus der autonomen Ichs weiter, bewegt sich auf eine Ebene, die beider Überleben und eine Weiterentwicklung der Gruppe sichert. Nicht ein dumpfer moralischer Zwang, sondern Neugier, Interesse am Anderen und seiner Sichtweise auf die Dinge!
Auf dieser Stufe der Kooperation zwischen zwei Individuen gibt es noch keinen Zwang zur Konformität. (2) Der entsteht offenbar erst, wenn sich die Gruppen so vergrößern, dass der Einzelne den Überblick verliert, vor allem an den Rändern der Gruppe. Da wird es wichtig, Gruppenzugehörigkeit auf Grund gemeinsamen Tuns, gemeinsamer Einstellungen zu definieren: in meiner Gruppe verhält man sich so oder so. Oder: wenn sich einer anders verhält, gehört er nicht zu meiner Gruppe. Kommt Ihnen das vertraut vor? Unsere Gesellschaft besteht ja zweifellos aus sehr großen Gruppen, was Konformität und Normen nötig macht, aber auch Spannung zwischen der individuellen Kommunikation und der Gruppennorm hervorruft. Die Einzelnen müssen Anpassung an die Gruppe leisten, zu der sie sich zugehörig fühlen. Hier wird deutlich, in welchem Spannungszustand die Sichtweise der 2-er-Konstellation zu der einer größeren Gruppierung stehen. Gruppenzugehörigkeit und ihre Zwänge gestatten weniger Offenheit gegenüber einem unvertrauten, fremden Anderen als die Begegnung zu zweit. Was ist wichtiger für die Weiterentwicklung, für den Fortschritt? Jedenfalls ist die Bereitschaft, auch ungewöhnliche Wege zu gehen, in der 2-er-Konstellation grösser. Kreativität ist Sache der Einzelpersönlichkeit und wertschätzen kann sie ein anderer Einzelner sicher eher, als eine größere Gruppe, die ständig auch die Gruppenhierarchie im Auge behalten muss.
Ist eine solche Anpassung nicht ein ziemlich schwieriger Prozess? Anpassung zwischen Starken und Schwachen, Reichen und Armen, Frauen und Männern, Syrern und Bayern, Christen und Moslems? Die sollen und wollen alle mehr oder weniger miteinander auskommen. Wie soll das gehen? Komplexe Geschichte? Ja, genau. Wenn der Begriff Komplexität für etwas zutrifft, dann für den Umgang von Menschen miteinander.
Das können Sie gar nicht ernst genug nehmen! Dass Menschen miteinander auskommen, ist überhaupt nicht selbstverständlich und überhaupt nicht einfach! Etwas anderes zu behaupten wäre erstens eine dümmliche Vereinfachung und zweitens entginge Ihnen damit die Chance, die Besonderheit menschlicher Kommunikation wahrzunehmen und zu schätzen. Wenn Sie mit Menschen zurechtkommen wollen, dann müssen Sie die Komplexität auf der Rechnung haben. Sie akzeptieren. Dies ist Ihre Chance.
Nicht ableiten kann man daraus, dass der eine oder der andere Standpunkt, der des Einzelnen oder der Gruppe automatisch besser oder stärker wäre. Was besser zu Ihnen passt, müssen Sie schon herausfinden, immer wieder in Ihrem Leben.
Vereinfachen ist ein naheliegender Wunsch, der aber schief geht, wenn man es mit Komplexität zu tun hat. Den Umgang mit der Komplexität beschreibt die Chaostheorie. Das ist schon lange bekannt. Auch Politiker könnten mal zur Kenntnis nehmen, dass man Komplexität nicht vermeiden kann.
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Quellen: