Gute Medizin – was ist das?

Wenn ein Mensch krank wird, gerät seine Integrität in Gefahr. 

12. Wann ist Medizin gut?

Wenn Sie von Einser-Abiturienten betrieben wird? Wenn Ärzte auf Top-Listen geführt werden? Oder wenn ein Arzt ganz einfach sein Handwerk versteht? Wenn Pflegepersonal und Ärzte empathisch auf jeden Patienten eingehen können? Wenn die Mediziner Intuition und Kreativität aufbringen, um auch seltene Probleme zu klären? Wenn ein Krankenhaus viel Gewinn erwirtschaftet? Ein ziemliches Durcheinander! Wie findet man Klarheit?

Ich mache hier mal ein Statement, das Sie auf den ersten Blick vielleicht überraschen wird: Sinnvolle Antworten auf die Frage nach der Güte der Medizin können natürlich nicht Ärztefunktionäre, Professoren, Krankenhausträger oder Krankenkassen geben, sondern nur die Betroffenen. Also zum Beispiel Sie, wenn Sie zum Patienten werden. Es kommt aber sehr selten vor, dass sich Patienten vernehmbar zur Güte Ihrer Behandlung durch Ärzte oder in Krankenhäusern äußern, – sieht man von irgendwelchen anonymen und damit automatisch zweifelhaften Internetportalen ab. Trauen Sie sich nicht, weil sie sich von der gewaltigen Kompetenz eingeschüchtert fühlen, die im Medizinsystem vor sich hinwabert?

Medizin ist dann gut, wenn der einzelne Mensch und seine Bedürfnisse im Zentrum der Bemühungen von Schwestern, Pflegern, Ärztinnen und Ärzten steht.

Wenn Sie krank sind, so krank, dass „es“ nicht mehr von selbst weg geht, dann suchen Sie einen Arzt auf, um eine Erklärung Ihrer Symptome, Hilfe, Linderung, Heilung zu bekommen. Der kann Ihnen aber nur richtig helfen, wenn Sie ihn „in sich rein lassen“. Wörtlich gilt das für die Chirurgen, aber auch alle anderen medizinischen Fächer können nur dann ihre volle Wirksamkeit entfalten, wenn Sie einer Ärztin, einem Arzt gestatten, Sie in ihrer ganz persönlichen, seelischen und körperlichen Individualität zu erfassen. Dabei werden Grenzen der Unversehrtheit überschritten, die im sonstigen zwischenmenschlichen Leben absolut geschützt sind. Das gilt nicht nur für den Gynäkologen, der eine Frau bei der Untersuchung anfassen darf, wie sonst kein Fremder, sondern auch für den Psychiater, dem Sie Dinge erzählen, die Sie vor Ihrer besten Freundin verheimlichen würden, für den Kardiologen, dem Sie gestatten, einen Schlauch in Ihr Herz – hallo!! in Ihr Herz! – zu schieben, oder für die Augenärztin, die Ihren kostbaren Augapfel aufschneiden darf, um eine trübe Linse zu ersetzen. Wenn Sie sich da reindenken, merken Sie, dass es bei der Medizin auch bei angeblich harmloseren Störungen sehr schnell ums Ganze geht.

Um zulassen zu können, dass ein Arzt die Grenzen meiner Person durch einen chirurgischen oder medikamentösen Eingriff oder auch durch die oft nicht weniger eingreifende Psychotherapie überschreitet, muss ich mich mit ihm verstehen, muss ich die Gewissheit haben, dass er mich ernst und die Bedrohung meiner Integrität richtig wahrnimmt.

Gute Medizin entsteht also aus dem ganz persönlichen Kontakt des konkreten Arztes mit dem konkreten Patienten. Denn Medizin hat bei aller tollen, manchmal unvorstellbar komplexen Technik – schauen Sie sich ruhig mal im Internet an, was bei einer Operation am offenen Herzen passiert! – vor allem die Aufgabe, diesen einen besonderen, jetzt gerade behandelten Menschen in seiner Einzigartigkeit zu bewahren, damit dieser trotz einer bedrohlichen Krankheit, trotz schwerer Beeinträchtigungen weiter leben kann.

Dynamik und Berechtigung bekommt die Medizin also aus Angst und Not der oder des hilfesuchenden Einzelnen. Weil Menschen in Bedrängnis sich nicht einfach jedem öffnen können, braucht Medizin Empathie. Und weil die erlernte medizinische Fertigkeit trotz noch so perfektionierter Studiengänge oft nicht ausreicht, um herauszufinden, woher das Leiden des Einzelnen kommt, oder wie es zu beheben wäre, braucht sie auch Kreativität: welche Wege sind bei diesem einzigartigen Patienten gangbar, die vielleicht in keinem Lehrbuch stehen? Diese Kreativität muss gar nicht unbedingt auf den fachlichen Schwerpunkt beschränkt sein. Wenn ein Arzt gut ist, kriegt er das Fachliche mit Erfahrung und Sorgfalt schon hin. Aber dann will diese eine Patientin trotz aller ordentlichen Medizin nicht genesen. Und dann kommt der Herzchirurg, der weiß Gott etwas anderes zu tun hätte, auf die Idee, dass etwas am Seelengleichgewicht der Patientin nicht stimmen könnte. Was zwar nicht seine fachliche Aufgabe ist, – aber für diese konkrete Patientin gerade der richtige Gedanke, der ihr dann doch ermöglicht, wieder gesund zu werden.

Begegnung mit dem Anderen, dem es schlecht geht, zum Ziel seiner Besserung, das ist der Kern der Medizin. Begegnen können sich nur Individuen, einzelne, einzigartige Menschen. Ein individueller Patient, ein individueller Arzt.

Dafür braucht Medizin einen Rahmen, besser vielleicht: eine Atmosphäre, in der sie gelingen kann. Und vor allem Anderen braucht sie Zeit: Zeit für die Begegnung zwischen Patient und Arzt, Zeit für den Austausch zwischen Menschen, die unterschiedliche Sprachen sprechen, Zeit, damit Ärzte nachlesen und denken können. Und natürlich auch Zeit für den Kontakt zwischen Pflegepersonal und Patienten, denn die haben oft ja viel mehr miteinander zu tun als Ärzte und Patienten.

Je nachdem, wie der Arzt den Patienten, wie der Patient den Arzt versteht, geht Medizin schneller, oder langsamer. Ich bin nach über 40 Jahren in meinem Fach einigermaßen erfahren und weiß manchmal nach 5 Minuten, was bei diesem einen Patienten los ist. Aber neulich habe ich nach 50 Minuten immer noch keine Ahnung gehabt. Hätte ich die Behandlung abbrechen sollen, weil sie meinen Zeitplan durcheinander brachte? Hätte ich fünfe gerade sein lassen und weniger sorgfältig handeln sollen? Ich habe das irgendwie hingekriegt, aber gerade in den großen Krankenhäusern bekommen junge wie ältere KollegInnen keine Zeit mehr, mit komplexen Situationen fertig zu werden.

Denn völlig unübersehbar ist, dass die Medizin sich geändert hat: getreu dem Spruch von Benjamin Franklin, dass Zeit Geld sei, wird die für den Patienten aufgewendete Zeit zum Schlüsselproblem der medizinischen Gegenwart. Individuell ist kaum noch etwas. Patienten lernen selbst ihre Operateure oft vor der Operation gar nicht mehr kennen, angeblich weil es der Dienstplan nicht erlaubt.

Ich würde den kennen wollen, dem ich mein Leben anvertraue. Sie wollen das nicht?

13. Oft ist Medizin schlecht!

Wenn Sie krank sind, wollen Sie, dass man Sie möglichst gut behandelt. Sie, Ihre Frau, Ihre Kinder, Ihre Eltern. Die vor allem, denn alte Menschen werden ja häufiger krank und pflegebedürftig und brauchen deshalb eine spezielle und auf sie ausgerichtete Medizin. Leider werden gerade alte Menschen oft mit ziemlich schlechter Medizin konfrontiert.

Wie können Sie schlechte von guter Medizin unterscheiden, wenn Sie sich in einem Krankenhaus behandeln lassen, als Kassenpatient aber durchaus auch als Privater? Sie haben es da als Nicht-Fachmann/-frau nicht leicht, denn die Abläufe der heutigen Medizin sind so spezialisiert, dass einer schon sehr viel Durchblick braucht, wenn er erkennen will, dass etwas schlecht läuft.

Ganz einfach und ohne wenn und aber – Medizin ist schlecht, wenn Sie nicht die Zeit bekommen, die Sie für Ihre Fragen, Sorgen, Bedenken, Ängste brauchen. Wenn Sie in irgendwelche Abläufe eingespannt werden, die Ihnen keiner mehr so erklärt, dass Sie sie verstehen könnten. Wenn schon dafür keine Zeit mehr ist, können Sie davon ausgehen, dass es auch anderswo gewaltig hapert.

Und noch einmal, ohne wenn und aber – Sie sind die/der, um die/den es geht, deren Bedürfnisse und Beschwerden diesem Medizinbetrieb seine Berechtigung gibt. Und nicht zuletzt sind Sie schließlich auch die Person, egal ob Kassen- oder Privatpatient, die das Geld bringt, das dieses Krankenhaus verdienen will. Aber irgendwie schafft es der moderne Medizinbetrieb, den Patienten das Geld aus der Tasche zu ziehen, ohne auf ihre wirklichen Bedürfnisse einzugehen. Und gleichzeitig knirscht es an allen Ecken und Enden.

Hier gelangen Sie zur Übersicht aller bisher veröffentlichten Kapitel.