In der Mitte dieses Spannungsfeldes, das einerseits durch die Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen und andererseits die Versuche entsteht, möglichst viel Geld aus der Behandlung dieser Einzigartigen herauszupressen, stehen die Ärzte.
Ich will Ihnen nichts vormachen: Im Vergleich zu vielen anderen Lebensbedingungen ist der Arztberuf heute immer noch ziemlich privilegiert und komfortabel. Kein Anlass zum Jaulen. Der Begriff Elend ist unpassend.
Im Nachbarland Polen sind die Ärzte gerade in den Hungerstreik gegangen (1). Fachärzte verdienen im Monat bis 700 Euro, müssen Doppel- und Dreifachschichten machen, einige sind schon gestorben.
Sie meinen, dass Polen eben ein armes Land im Osten sei, nicht vergleichbar mit der BRD? Polen gehört zur EU! Wie übrigens auch Griechenland, wo das Gesundheitssystem ebenfalls ein Elend ist. In unserem Wirtschafts- und Währungssystem, in unserem Nachbarland wird die Medizin für ein vernachlässigbares Übel gehalten, anders kann man das nicht ausdrücken. Das sollte Sie vielleicht nachdenklich machen.
Die Zeichen der Veränderung zum Schlechten sind auch bei uns unübersehbar. Zum sehr viel Schlechteren. Und die Leidtragenden sind diejenigen, die eigentlich im Zentrum des Gesundheitswesens stehen sollten, die Patienten, die nicht nur in Polen oft monatelang auf einen Termin warten.
Absurd erscheint an dieser Situation, dass diese Veränderung zum Schlechten in unserem wohlhabenden Land überhaupt nicht nötig wäre, wenn wir uns klar machen würden, dass nicht alle Lebensbereiche nach den Prinzipien der Gewinnmaximierung funktionieren.
18. Das Image der Mediziner

Ärzte haben heute ein schillerndes Image. Da gibt es – immer noch – die Heroen der Medizin, die unter schwierigsten Bedingungen Wunder vollbringen und Leben retten (2), aber es gibt auch die anderen, die bei großen Skandalen vorverurteilt werden, lange, bevor irgendein Gericht Recht gesprochen hat.
Ist der Wandel der Medizin aus einem humanitären in ein finanzielles Unternehmen auch den Medizinern zuzuschreiben? Warum sollten ausgerechnet Ärzte der Faszination des Geldes seltener erliegen, als der Rest der Menschheit? Und die Gehälter sollen ja auch so ansehnlich sein, dass sie für Sozialneid eine Menge Platz lassen.
Wenn man die ärztlichen Einkommen auf die lange und nicht einfache Ausbildung bezieht, relativieren sich solche Fragen ziemlich:
- Schon während der Schulzeit müssen Sie in den letzten 2 Schuljahren Spitzenleistungen vollbringen, sonst haben Sie beim Numerus clausus keine Chance.
- Dann folgt ein ziemlich verschultes Studium, ohne viel Spielraum für anderes, 6 Jahre, am Schluss ein Examen, für das Sie durchaus pauken müssen.
- Um Facharzt zu werden, und alles andere macht keinen Sinn, müssen Sie ca. 6 Jahre an einer Klinik arbeiten, mit viel Verantwortung und jeder Menge Nachtdiensten, bis Sie sich mit ca. 30 wieder prüfen lassen müssen.
- Und für die Spezialisierung einschließlich Habilitation und Chefarztbefähigung brauchen Sie dann nochmals einige Jahre. Letzteres ist unverzichtbar, denn moderne Medizin beruht auf Spezialisierung.
Menschen, die Ärztinnen und Ärzte werden wollen, nehmen also lange Ausbildungszeiten und damit lange Abhängigkeiten in Kauf. Bis vor einigen Jahren störte das nicht, weil am Ende der Plackerei nicht nur ein sehr akzeptables Gehalt, sondern auch die Chance auf eine Leitungsfunktion stand, in der man Verantwortung ausüben und Medizin gestalten konnte.
In den letzten Jahren scheint sich auf dem Weg zwischen Staatsexamen und Chefarzt aber Gravierendes zu ändern: Die Neigung, Verantwortung zu übernehmen, wird immer weniger. Ein Kollege erzählte mir, dass in seiner Klinik die Fachärzte kaum noch Interesse an einer Chefarztposition hätten. Wissenschaftlich arbeiten wollten sowieso nur noch die ganz idealistischen, die von den anderen oft als Freaks abgetan würden. Er habe den Eindruck, dass seine Mannschaft sehr genau beobachte, wie es heute an der Spitze von Abteilungen zugehe. Das wollten sich die meisten nicht geben. Nachvollziehbar.
In meinem nicht-operativen Fach bestand ein neu einzustellender Kollege darauf, zu Beginn seiner Facharztzeit statt 100% nur 70% zu arbeiten. Die Stelle bekam er natürlich, denn Ärzte sind kostbar. Meinem vorsichtigen Einwand, dass die 70% mit der Karriere womöglich schwer zu vereinbaren sein würden, begegnete er mit dem sehr klaren Statement, an einer Karriere zum Ober- oder Chefarzt sei er nicht interessiert.
Der Herzchirurg Ingo Kaczmarek, der eine leitende Funktion an der LMU München innehatte, warf unter anderem wegen der Unerträglichkeiten des Anreizsystems das Handtuch, verließ eine angesehene akademische Position mit Zukunftsperspektiven, um Landarzt in der Schweiz zu werden (3)!
Warum studieren junge, begabte Menschen dann noch Medizin?

Die Einstiegszahl in das Medizinstudium ist seit langem unverändert. Offenbar faszinieren die Mischung aus Heilen und Naturwissenschaften, das Interesse am Menschen und die Aussicht auf einen krisensicheren Job immer noch viele Einserabiturienten. Ins Grübeln kommen die KollegInnen offensichtlich nach dem Studium.
Was verdienen Ärzte?
Beim Oberarzt für Chirurgie, im Alter von 42 Jahren, einer wöchentlichen Arbeitszeit von 70.0 Stunden beträgt das Gehalt 117.000,00 € brutto pro Jahr. Ein Assistenzarzt bekommt ein Drittel weniger (4). Ohne Zweifel ordentlich, aber nicht exorbitant. Das Problem bei Gehältern dieser Größenordnung liegt woanders: sie sind eine Versuchung für die Finanzverwalter, Stellen nicht zu besetzen. Zehn nicht besetzte Arztstellen ergäben zwischen 600.000 € und über einer Million Euro Gewinn, sehr vorsichtig gerechnet. Dafür kann man doch schon mal einen Ärztemangel am eigenen Haus tolerieren. Man kann behaupten, es gäbe keine geeigneten Bewerber und eine Klinik mit Minderbesetzung betreiben. Das funktioniert ziemlich reibungslos.
Aber wenn Sie als Krankenhausträger auf diese Weise Geld aus dem Medizinbetrieb herausziehen, weil Sie damit lieber an der Börse spekulieren, Schulden bezahlen, investieren, oder Ihr Ansehen bei den Politikern vermehren, vermindern sie die medizinische Kernzeit für die noch vorhandenen Ärzte. Damit meine ich die Zeit für die eigentlichen medizinischen Aufgaben, ohne Dokumentation, ohne Budgetkonferenzen, die Zeit mit dem Patienten.
Das hat weitreichende Konsequenzen:
- Zum einen kommen die Ärzte unter Zeitdruck, wenn sie das tun, was die eigentliche ärztliche Tätigkeit ausmacht, nämlich die besondere Situation eines kranken Menschen, die Einzigartigkeit eben dieses Patienten herauszufinden und individuelle Behandlungswege zu finden. Das erhöht den Stress auch für versierte Spezialisten; denn sie müssen die von ihnen erwarteten Ergebnisse in immer kürzerer Zeit erbringen. Wer das bezweifelt, soll sich doch mal als Kassenpatient in eine der von Großkonzernen, Asklepios, Helios, etc. betriebenen Kliniken einweisen lassen.
- Zum anderen sinkt ihre Klinik in der Attraktivität für stellensuchende Mediziner; dann können die Stellen auch dann nicht mehr besetzt werden, wenn es nötig wäre, um Stationen nicht schließen zu müssen. Unterbesetzung beeinflusst den individuellen Marktwert einer Klinik negativ.
Druck in der alltäglichen Arbeit ist das eine strukturelle Problem der Ärzte. Das andere ist der Verlust eines wesentlichen Ziels medizinischer Karrieren: selbstständig und in eigener Verantwortung das anzuwenden, was Ärzte in den langen Jahren von Studium und Ausbildung gelernt haben. Bei einer internen Befragung von Fachärzten wurde der selbstständigen Arbeit der höchste Wert zugeschrieben, noch vor dem Gehalt. Der Zwang, sich in allen Entscheidungen an den Vorgaben der betriebswirtschaftlichen oder ärztlichen Verwalter auszurichten, bis in die Details der Patientenbehandlung hinein, macht ausgerechnet die Attraktivität zunichte, die klinische Leitungspositionen einmal hatten.
So wird die Arbeit für Mediziner immer unattraktiver, wenn der finanzielle Gewinn des Krankenhauses zum Hauptkriterium medizinischer Tätigkeit wird. Diejenigen, die eine Wahl haben, gehen und überlassen das Feld weniger qualifizierten Kollegen, die trotzdem dem gleichen Druck standhalten müssen. In dieser Situation liegt leider nicht nur der Hund begraben.
Sie mögen sich jetzt fragen, ob es für die medizinische Versorgung so ein Drama ist, wenn es bald kaum noch unabhängige, engagierte Chefärzte gibt? Medizin können doch viele. Die Perspektive ist ziemlich einfach: Das Niveau wird sinken, denn diese Personen verdienten in der Vergangenheit ja nicht nur ordentlich, sondern gaben die Standards in der Forschung und der Ausbildung der jüngeren Kollegen vor. Ohne diese Vorgaben wird die Medizin eben schlechter werden. Wen trifft das? Genau!
19. Des Dramas zweiter Teil: Die Medizin der niedergelassenen Ärzte
Die ambulante medizinische Versorgung der Bevölkerung wird von den niedergelassenen Ärzten gemacht. Wenn Sie als Mediziner in erster Linie mit Patienten arbeiten wollten und sich weniger für Wissenschaft oder Hochschulkarriere interessierten, war die Niederlassung der Königsweg. Viel zu tun, keine geregelten Zeiten, aber eigenständiges Arbeiten, auf die Dauer ein solides Einkommen der gehobenen Klasse, ein meist gutes Verhältnis zu den Patienten, die wussten, dass ihnen auch zu unbequemen Zeiten geholfen wurde. Diese Ärzte machten ja auch noch Hausbesuche. – wenn ich das schreibe, klingt es wie eine Sage aus längst vergangenen Zeiten!
Eine Voraussetzung war, dass Sie in der Assistenzarztzeit über die reichlich vorhandenen Dienste und Überstunden genügend Geld verdient hatten, um eine vernünftige Grundlage für einen Praxiskredit zu haben. Das geht heute nur noch in den Fällen, in denen die Eltern einem viel Geld mitgeben, denn der im Arbeitszeitgesetz vorgeschriebene Freizeitausgleich verhindert bezahlte Überstunden weitgehend.
Die andere, noch wichtigere Voraussetzung war, dass Sie sich soweit auf Ihr Einkommen verlassen konnten, dass ein Kredit nicht zum Glückspiel wurde. Notfalls konnten niedergelassene Ärzte, wie alle Selbstständigen, auch mal mehr arbeiten, wenn es mit der Rückzahlung des Kredits eng war. Das geht heute nicht mehr, denn die Budgets sind gedeckelt, was bedeutet, dass niedergelassene Ärzte ihr Einkommen nicht mehr steigern können, auch wenn sie mehr arbeiten. Diese Einschränkung der Verdienstmöglichkeiten macht jeden Kredit riskant. Ärzte tragen mit dem Betrieb ihrer Praxen und den Beschäftigungsverhältnissen ihrer Mitarbeiter das volle Risiko aller Selbstständigen, haben aber keine Möglichkeit, auf Krisen zu reagieren. Außerdem hat sich das Gehaltsgefüge geändert: Da die meisten Ärzte von der Kassenmedizin nicht leben können – dazu kommen wir gleich! – , brauchen sie eine Patientenanteil von ca. 20% privat Versicherten. Doch diese Zukunft ist ungewiss, denn wenn Sie die Verlautbarungen der sogenannten Gesundheitspolitiker zur Kenntnis nehmen, hören Sie ständig, dass die privaten Krankenversicherungen abgeschafft werden sollen.
Kurz: Der Königsweg ist nicht mehr so richtig königlich.

Das ließe sich wahrscheinlich noch verschmerzen. Aber der negative Clou der ambulanten Medizin ist ein völlig absurder Anachronismus: Das vor Jahren in DDR und Sowjetunion der Ineffizienz überführte Modell der Planwirtschaft wird in unserem kapitalistischen Wirtschaftssystem auf die Spitze getrieben. Anders ausgedrückt: Für alle ambulanten medizinischen Leistungen darf nur eine definierte Gesamtsumme, das Budget, ausgegeben werden. Also werden Zahl und Bezahlung der Leistungen = Behandlungen dem Plansoll angepasst.
Falls Sie jetzt glauben, dass Sie solche Spezialitäten nicht zu interessieren brauchen, ist Ihnen bis jetzt erfreulicher Weise entgangen, dass sie mindestens zwei Folgen dieses kranken Systems am eigenen Leib erleben, wenn Sie einen Arzt brauchen:
Stellen Sie sich vor: Sie leiden seit zwei Wochen unter Angstzuständen, haben keinen Spaß mehr am Leben, schlafen tun Sie schon lange schlecht und ab und zu kommt Ihnen der Gedanke, Schluss zu machen. Auch wenn es sich scheußlich anfühlt, etwas Besonderes ist das nicht. 20 bis 40 % der in unserer Gesellschaft lebenden Menschen haben solche Phasen mindestens einmal in ihrem Leben. Die Medizin, in diesem konkreten Fall die Psychiatrie, könnte solche Zustände gut behandeln. Wenn es dafür denn genügend Geld gäbe. Die gesamte ambulante Medizin arbeitet mit geringen Ausnahmen im Bereich der gesetzlichen Krankenkassen mit dem sogenannten Quartalsbudget: eine Summe für alles, was an Diagnostik und Behandlung in drei Monaten gemacht wird. Sieht man davon ab, dass, wie erwähnt, fixe Budgets in kapitalistischen Systemen, in denen es um Angebot und Nachfrage gehen sollte, völlig anachronistisch sind, könnte man mit einem vernünftigen Budget vielleicht noch etwas machen.
Aber was bekommt ein Arzt nun für die Betreuung eines Patienten im Quartal? Hier erlebt die Kuriosität einen weiteren Höhepunkt, denn das System ist vollkommen intransparent! Selbst die Ärzte, die in diesem System Ihren Lebensunterhalt verdienen, kennen die genauen Zahlen nicht, können zum Beispiel nicht vergleichen, was ein Kollege in Niedersachsen und einer in Schleswig-Holstein verdient, geschweige denn, wie sich ein Psychiater im Vergleich zum Kardiologen steht! Das Wenige, was man kennt ist, vorsichtig gesagt, erstaunlich: So sollen die Psychiater in Schleswig-Holstein zur Zeit im Quartal, das heißt in 3 Monaten, für die Betreuung eines Patienten 25€ bekommen (5).

War Psychiatrie nicht mal das, was man „sprechende Medizin“ nannte? Der oben beschriebene depressive Patient, der unter seinen Angstzuständen sehr leidet – haben Sie schon mal Angstzustände gehabt? – und der ja vielleicht auch selbstmordgefährdet sein könnte, wäre ja mit einem oder zwei Terminen im Quartal überhaupt nicht sinnvoll zu behandeln! Er sollte in den ersten drei bis vier Wochen besser wöchentlich kommen, dann einmal alle zwei bis drei Wochen und schließlich einmal im Monat. So kommen ohne weiteres fünf oder mehr Termine zu Stande.
Fünf Termine für 25 €, wenn der erste Termin ungünstig, das heißt am Beginn des Quartals liegt. Wenn sich die Behandlung über zwei Quartale erstreckt, sind es 50 € – vor Steuern. Und jetzt kommt das ganz persönliche Ethos des jeweiligen Arztes ins Spiel: Fragen Sie sich doch selbst, wie lange Sie – in Minuten und Stunden – nach mehr als 15 Jahren Ausbildung und vielleicht 10 Jahren Berufserfahrung für 5 € vor Steuern arbeiten wollen. Traurig? Ziemlich traurig.
Nur noch ein Beispiel: Bei den Dermatologen, die – bei allem Respekt – weniger reden und schneller hinschauen müssen, liegt der Quartalsbetrag in Hamburg bei 14 €. Vor 25 Jahren lag er bei 80 DM. Sie kommen ins Grübeln? Nicht nur Sie. Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum Sie als Kassenpatient so lange warten müssen, bis Sie einen Termin bekommen. Wenn ein Psychiater zu viele 5€-Patienten pro Quartal behandelt, kann er wirtschaftlich nicht überleben. Das können Sie sich ja ohne Weiteres selbst ausrechnen. Warten zu müssen, ist bei dem geschilderten Patienten mit Angstzuständen und Selbstmordgefährdung natürlich medizinisch völlig widersinnig.
Aber da gibt es ja noch Privatpatienten. Die bekommen ihren Termin offensichtlich schneller. Das erscheint Ihnen nicht fair? Ist es auch nicht fair. Aber schauen Sie sich die Zahlen selbst an: Wenn der geschilderte depressive Patient privat versichert wäre, bekäme sein Psychiater für den ersten Termin zwischen 30 und und 50, bei komplizierten Fällen sogar 100 Euro, sofern der Termin länger als 20 Minuten dauert, für die Folgetermine zwischen 33 und 50, je nachdem, wie kompliziert die Behandlungssituation ist. Das muss natürlich auch noch versteuert werden, aber jetzt kommen wir in einen Bereich, in dem sich die Arbeit zu lohnen beginnt.
Auf die Spitze getrieben, könnte ein Arzt um so mehr Kassenpatienten behandeln, je mehr Private er behandelt. Macht man sich das klar, so wird offensichtlich, dass die Forderung der Politiker nach Abschaffung dieses Zwei-Klassen-Systems die pure Heuchelei ist, denn wenn niedergelassene Ärzte keine Privatpatienten mehr behandeln könnten, müssten die meisten von ihnen ziemlich schnell Insolvenz anmelden.
Nur dass es einmal ausgesprochen wurde: Für das geschilderte Fiasko sind direkt zuständig die Krankenkassen und die Kassenärztliche Vereinigung. Wenn Sie bei einer der beiden Stellen anrufen, um sich z.B. über die Wartezeiten zu beschweren, werden Sie hören, dass das alles im Ermessen der niedergelassenen Ärzte liegt. Klar, die verwalten den Mangel. Aber machen wir uns nichts vor: der Zustand des Systems liegt in der Verantwortung der parteiübergreifenden Politik, die das Geld anders ausgeben will.
Interessanter Weise werden in öffentlichen Diskussionen das ambulante und das stationäre System penibel auseinander gehalten. Aber – fließen nicht Ihre Kassenbeiträge in beide Systeme? Und hat es wirklich nichts miteinander zu tun, dass in dem einen System stattliche Gewinne eingefahren werden, während im anderen infolge der kollabierenden Budgets keine akzeptable Behandlung mehr möglich ist? Wenn Sie Pech haben, werden Sie Opfer beider Systeme: Nach einer Operation werden Sie schon nach wenigen Tagen entlassen, – „blutig entlassen“ heißt das im Jargon der Assistenzärzte. Manchmal in eine Reha, oft nach Hause. Sollten Sie dann einen ambulanten Kollegen suchen, der Sie weiter versorgen könnte, zum Beispiel ein Rezept für Verbandsmaterial oder Medikamente ausschreibt, dann werden Sie sich wundern, vor allem, wenn sich das Quartal gerade seinem Ende nähert.
Der Mensch hält viel aus. Ihr Glück, Herr Gröhe, Herr Lauterbach, Herr Rösler!
Warum schreibe ich das?

Will ich Panik hervorrufen? Will ich Ihnen Angst machen, wenn Sie mal in die Situation kommen, sich behandeln lassen zu müssen, ambulant oder stationär? Natürlich nicht! Diese Geschichte ist nicht neu. Alles, was ich geschrieben habe, konnten Sie in den letzten Jahren mehrfach irgendwo lesen. Aber Sie haben es nicht wahrnehmen wollen. Sie waren ja gerade nicht krank. Und was Ihrer alten Mutter passiert ist, als sie kurz vor ihrem Tod notfallmäßig in die Klinik musste, das war sicher ein blöder Einzelfall. Leider war es das wahrscheinlich nicht.
Ich mache mir wenig Illusionen über die Wirksamkeit eines solchen Blogs. Aber eine winzige Chance gibt es vielleicht doch. Denn diese gruselige Geschichte von der heutigen Medizin muss sich ändern! Was heute in der Medizin passiert, ist dem, was Medizin sein sollte, was sie sein könnte, völlig entgegengesetzt. Und diese Botschaft kann man gar nicht oft genug in die Welt posaunen.
Auch wenn Sie es vielleicht für etwas weit her geholt halten, Medizin ist die Disziplin, die sich mit der Besonderheit, der Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen auseinandersetzen muss, oder sie verliert ihre Grundlage. Heute sind wir kurz davor.
- Heute werden an vielen Stellen Patienten schlechter behandelt, als es möglich wäre, weniger auf der technisch-operativen als auf der kommunikativ-zwischenmenschlichen Ebene. Kein Wunder, dass Gesundheitspolitiker und Klinikchefs von Robotern und Digitalisierung fantasieren. „Die digitale Gesundheitsakte ist Merkels nächster Schritt.“(6) Hat jemand der Bundeskanzlerin erzählt, dass digitale Systeme bei aller Fortschrittlichkeit das Gespräch zwischen Mensch und Mensch nicht ersetzen können?
- Heute ist die Mehrzahl der hoch qualifizierten und auch irgendwann mal hoch motivierten Ärzte frustriert und verärgert, wenn sie nicht gleich eine Burnout-Symptomatik entwickeln. (Burnout bei Ärzten können Sie googeln.) Denn das ist der Grundmechanismus des Burnout, hoch motivierte Menschen immer weiter unter Druck zu setzen, bis sie nicht mehr können. Persönliche Berichte aus den Op´s der großen Klinika, wo fast rund um die Uhr operiert wird, weil es den Gewinn steigert, haben immer auch die katastrophalen Umgangsformen und die schlechte Stimmung zum Thema.
- Heute sind viele Mediziner auf dem Weg in den Zynismus, arbeiten nur noch nach Vorschrift, weil sie die menschliche Not ihrer Patienten nicht mehr an sich herankommen lassen wollen und können. Andere versuchen die Quadratur des Kreises, „trotzdem“ gute Medizin zu machen, was ihnen, da sie gut sind, oft genug noch gelingt. Aber Spaß macht das niemandem mehr.
- Heute fühlen sich die niedergelassenen Kollegen, die eigentlich die Grundstruktur unseres Gesundheitswesens sichern sollen, auf verlorenem Posten.
Wollen wir das? Wollen Sie das? Wir sind doch so ein wohlhabendes Land!
Deshalb geht es in den nächsten Blogs ums Geld.
Hier gelangen Sie zur Übersicht aller bisher veröffentlichten Kapitel.
Quellen:
- tagesschau.de vom 8.10.2017 05:01: Hungern für bessere Arbeitsbedingungen
- Der letzte Schnitt: Bericht über den Leiter des Münchner Herzzentrums Rüdiger Lange. Bericht von Felix Hütten. SZ.de vom 29.9.2017
- ZEIT Magazin Mann, Frühjahr – Sommer 2017, S 86: EIN GLÜCK! Der Herzchirurg Ingo Kazmarek fängt noch mal von vorn an.
- Zahlen aus gehalt.de
- Das ist hinter vorgehaltener Hand erzählt worden, schon einige Monate alt. Mag sein, dass diese Zahl um einige Euro nach oben oder unten zu korrigieren ist.
- Ärztezeitung online, 11. 7. 2017