Die Wurzel allen Übels

Geld hat uns im Griff. Als Einzelne und als Gesellschaft. Viel mehr, als sich die am Geld Interessierten eingestehen wollen. Um zu verstehen, wie das Geld unser Leben bestimmt, lohnt es sich, bei uns selbst anzufangen.

20. Macht Geld glücklich?

Shoppen ist toll! Neulich hatte ich vergessen, dass verkaufsoffener Sonntag war. Als ich mit meinem Hund spazieren ging, wurde ich plötzlich von Menschentrauben zur Seite geschoben, weil ich zufällig auf eine Straße mit vielen unerwartet offenen Geschäften geraten war. Die Möglichkeit, an einem freien Tag einkaufen zu können, scheint enorm verlockend zu sein. So verlockend und anscheinend auch befriedigend, dass Sie sich sogar an einem Sonntag, an dem Sie faul sein könnten, ans Meer fahren oder einfach nur lesen, den Sie mit Ihrer Liebsten im Bett zubringen könnten, lieber durch volle Geschäfte drängen, um dann prall volle Einkauftüten nach Hause zu schleppen.

Foto: Manfred Koschabek

Der sogenannte Einzelhandel, der inzwischen in der Mehrzahl aus Ketten besteht, deren Läden Sie in fast jeder Stadt finden, begrüßt diese Sonntage, denn Sie lassen dann Ihr Geld bei ihm. Die Internetversion, bei der Sie über Zalando, Amazon etc. immer, zu jeder Tages- und Nachtzeit shoppen können, zeigt unglaubliche Zuwächse. Warum sind Sie so versessen darauf, Ihr Geld auszugeben?

Es scheint für sehr viele ein wesentlicher Aspekt des Geldes zu sein, sich Dinge kaufen zu können, die sie irgendwie befriedigen. Ich persönlich halte Einkaufen eher für ein notwendiges Übel, aber die Frage ist schon interessant: Was passiert beim Shoppen? Kaufen Sie sich Glück?

Glück! Du meine Güte! Ist das nicht etwas hoch gehängt? Heutzutage ist es doch schon ganz nett, sein Auskommen und regelmäßig ein bisschen Spaß zu haben.

Da gibt es nun diesen Text, der schon fast 250 Jahre alt ist: „We hold these truths to be sacred & undeniable; that all men are created equal & independent, that from that equal creation they derive rights inherent & inalienable, among which are the preservation of life, & liberty, & the pursuit of happiness.“ (1)

Sie sind also mit angeborenen und nicht zu veräußernden Rechten ausgestattet. Dazu gehört nicht nur das Recht auf Leben und Freiheit, sondern auch das Recht, Ihrem persönlichen Glück nachzugehen. Persönlich, individuell, einzigartig. Passt ja irgendwie zum Thema Einzigartigkeit. Da diese berühmten Sätze nicht ausformulieren, was mit „happiness“ gemeint ist, bekommen Sie erst mal die Freiheit, das einzusetzen, was Ihnen wichtig ist. Wollen Sie tatsächlich „Geld“ einsetzen? Macht Geld glücklich?

In der Literatur und im Internet hat das Glück einen ziemlichen Boom hinter sich. Es wird allerdings in unterschiedlichen Ländern und sozialen Schichten sehr unterschiedlich definiert (2).

Foto: Manfred Koschabek

Die Forschungsgruppe des Schweizer Wirtschaftswirtschaftlers Bruno Frey hat sich mit dem Zusammenhang von verdientem Geld und Glück beschäftigt und herausgefunden, dass Menschen mit höherem Einkommen ihr subjektives Wohlbefinden tatsächlich höher bewerten als Ärmere (3). Für diese Erkenntnis hätten Sie wahrscheinlich keine wissenschaftliche Studie gebraucht. Aber ganz so trivial ist das nicht.

Was dann folgt, beschreibt Angus Deaton, der 2015 das Wirtschafts-Analog zum Nobelpreis bekam, im internationalen Vergleich (4): “…Poverty generates misery, but beyond a certain point (about $ 70.000 a year), additional money does nothing to improve happiness, even though those with more money report that they have better lives…”

Wenn Sie Ihr Einkommen vermehren können, vermittelt Ihnen das ein Hochgefühl, aber nur so lange, bis Sie etwas mehr als den Gleichstand mit Ihrer Peergruppe erreicht haben, also mit den Leuten, auf deren Meinung Sie etwas geben, mit denen Sie zusammen arbeiten, in deren Gegend Sie wohnen, mit denen Sie grillen und Ihr Feierabendbier trinken, oder vielleicht auch Fußball spielen. Viel mehr Geld zu haben als die, wäre sicher nett, wird aber nicht mehr als Glück erlebt. Geld macht also nur bedingt glücklich.

Andererseits macht das Fehlen von Geld, also Armut, sehr unglücklich. Nur den wenigsten, außer den unmittelbar Betroffenen dürfte bewusst sein, was es bedeutet, kein Geld zu haben. Armut ist in körperlicher und seelischer Hinsicht von Unglück nicht zu trennen. Der Bochumer Psychologe Jürgen Margraf, ein international renommierter Angstforscher, befragte Menschen aus der sozialen Unterschicht nach ihren Befindlichkeiten und ihrer Lebenseinstellung (5):

  • Tägliche Aktivitäten sind Quelle von Schmerz und Langeweile 17, 6%
  • Künftiges Leben ist ohne Sinn und Zweck 19,7%
  • Als Person nicht viel wert 20,6%
  • Starke Spannungen mit nahestehenden Personen 22,1%
  • Tägliches Leben hat wenig Sinn 32,7%
  • Harte Arbeit lohnt sich nicht 34,2%
  • Leben lohnt sich nicht 38,1%
  • Interesse an allem verloren 36%
  • Finanziell belastet 42,3%
  • Fühle mich als trauriger Verlierer 44,8%
  • Nie Sport 44,6%
  • Überhaupt keine positiven Gefühle 60,1%
  • Wichtige Lebensbereiche (Arbeit, Freizeit, Familie) unkontrollierbar 82,4%

Was für ein Elend!

Foto: Manfred Koschabek

Versuchen Sie mal, sich empathisch in einen Menschen hineinzuversetzen, der solche Aussagen macht, und das vor allem in dieser Menge und Kombination. Dieses Ausmaß an Unglück ist so unfassbar, dass es schon fast schwerfällt, Mitgefühl zu empfinden. Möglicherweise haben die Armen auch deshalb so gar keine Lobby!

Als Psychiater würde ich sagen, dass solche Antworten einer schweren Depression entsprechen, was mit der bekannten Beobachtung korrespondiert, dass Depressionen und Armut eng verbunden sind. Und da Depressionen ein Bedingungsfaktor schwerer körperlicher Krankheiten, wie Herz-Kreislaufkrankheiten oder Diabetes sind, wirkt sich Armut nicht nur auf die Seele, sondern auch katastrophal auf den Körper aus (6).

Angus Deaton (7) sagt es so: “…The reality of poverty … is about not having enough to participate fully in society, about families and their children not being able to live decent lives alongside neighbours and friends. … in a world in which general living standards are rising, an absolute poverty line means that those who are poor are drifting further and further below the mainstream of society.

Armut haben in unserem wohlhabenden Land nur wenige im Fokus. Darum wird leicht übersehen, dass es wohl nicht nur um die „…absolute poverty line…” geht. Sondern für unser Lebensgefühl und unser Wohlbefinden spielt bereits die Befürchtung, wir könnten uns dieser Linie auch nur nähern, eine entscheidende Rolle. Wenn wir unser Einkommen nicht kontrollieren können, wenn nicht sicher ist, dass wir in zwei Jahren diesen Job noch haben, wenn unsere Konten bei unserer Bank, aber auch bei Amazon oder Zalando ins Minus rutschen könnten, und wir das kleine Glück des Shoppens verlören, – dann hört der Spaß auf. Dann beginnt das Unglück.

Armut zuzulassen und nicht aktiv zu bekämpfen, ist aber nicht nur eine Frage von fehlendem Mitgefühl und nicht vorhandener Humanität, sondern wir schaden uns selbst. Denn auch Menschen, die in Armut leben müssen, sind einzigartig und tragen ein hohes Potential an Ressourcen in sich, die unserer Gesellschaft zugutekommen könnten. Wir werden die Folgen zu tragen haben, wenn wir dieses Potential im grauen Schleim der Depression ersticken lassen.

Foto: Manfred Koschabek

Geldmangel trägt also dramatisch zum Unglück bei. Andererseits macht Geld auch nur bedingt glücklich. Lassen Sie sich das mal auf der Zunge zergehen. Denn angesichts des enormen Stellenwerts, der dem Gewinn von Geld heute auf Kosten fast aller anderer Lebensbereiche beigemessen wird, – wir kommen noch darauf, – frage ich mich schon, ob unsere ausschließlich am Geld interessierten Zeitgenossen, noch ganz gesund und nicht vielmehr ziemlich verrückt sind. Ja, ich bin Psychiater und ja, ich weiß, was das umgangssprachliche „verrückt“ im Sinne seelischer Störungen bedeutet. Gerade deshalb weiß ich aber auch, dass selbst ein mit dem Alltag kämpfender Schizophrener, ein sich selbst hoffnungslos überschätzender Maniker oder ein selbstzerstörerischer Depressiver niemals so katastrophal mit ihrem Leben und dem anderer umgehen würden, wie die an Spekulation und Geldvermehrung interessierten, ach so seriösen Banker, Spekulanten und – last not least – Politiker!

Hier gelangen Sie zur Übersicht aller bisher veröffentlichten Kapitel.

Quellen:

  1. de.wikipedia.org: Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika
  2. Leo Bormans: Glück. The World Book of Happiness. Dumont Buchverlag Köln 2012, ISBN 978-3-8321-9357-7
  3. Bruno S. Frey&Alois Stutzer: Happiness and economics. How the economy and institutions affect well-being. Princeton University Press, Princeton (N.J.) 2002, ISBN 0-691-06997-2
  4. Angus Deaton, The Great Escape, Princeton University Press, New Jersey, 2013, ISBN 978-0-691-16562-2
  5. Jürgen Margraf et al: in Vorbereitung (Die Prozentangaben beziehen sich auf die Zahl der Menschen, für die die jeweiligen Antworten zutreffen)
  6. David Stuckler: The Body Economic – Why Austerity Kills, Basic Books, Philadelphia 2013, ISBN 978-0-465-06398-7
  7. Angus Deaton, s. fn 4