Das Naturgesetz der Ungleichheit

25. Was können wir anders machen und wie?

Ja, Sie haben recht: ich schimpfe und maule. Rede dauernd von Missständen, die Sie doch alle ohnehin schon kennen, oder zumindest kennen könnten.

Sie meinen, dass es bei uns doch immer noch viel besser ist als anderswo? Was ja nicht so falsch ist. Zum Beispiel England, das im Zuge der Thatcherisierung sein Medizinsystem so demoliert hat, dass die Menschen ohne ausländische – deutsche! – Konsiliarärzte ziemlich übel dran gewesen wären. Wenn die jetzt im Zuge des Brexit auch noch verschwinden … Oder Griechenland, dessen korruptes Steuersystem mit deutschem Druck endlich saniert wurde, – wobei leider auch gleich noch die medizinische Versorgung drauf ging. Ein Freund war kürzlich auf Kreta in Urlaub und kam dazu, als jemand einen Herzstillstand bekam. Mehr als manuelle Herzmassage war nicht drin! Ein Notarzt, der mit Blaulicht gekommen wäre, Elektrokonversion, vielleicht ein Hubschrauber auf die nächste Intensivstation? Fehlanzeige. Der Mann ist natürlich gestorben. Die Griechen sind doch selber schuld, weil sie ihren korrupten Reichen das Steuerhinterziehen nicht rechtzeitig abgewöhnt haben!

Sorry, ich kann es offenbar nicht lassen! Und es ist doch bald Weihnachten!

Was ist mein Punkt? Ich versuche es mal ohne Polemik: Das gute Leben wäre so leicht zu haben! Hierzulande und auch bei denen, die es im Vergleich zu uns viel schlechter haben. Doch es wird weniger, hier und dort. Doch der sich ankündigende und anderswo längst vorhandene Mangel ist nicht gottgegeben, sondern er entsteht unter anderem, weil das Geld von den Vielen zu den Wenigen wandert! Piketti hat seine Thesen untermauert, diesmal mit 100 anderen Wissenschaftlern und es ist nichts besser geworden: 2013 kamen die obersten zehn Prozent auf 40 Prozent des Gesamteinkommens in der Bundesrepublik, die untere Hälfte der Bevölkerung dagegen nur auf 17 Prozent. Lesen können Sie das bei SPIEGEL ONLINE. 1

Jeder muss selber herausfinden, was gutes Leben für ihn und, so vorhanden, seine Kinder ist. Jeder muss herausfinden wie lange er ungute Lebenssituationen aushält. Aber ob es Chancen gibt oder nicht, das verantworten wir alle, denn wir leben hierzulande in einer Demokratie. Dabei wäre es so einfach. Was also müssten wir tun, um das gute Leben nicht ganz in die Tonne zu treten?

Es gibt Naturgesetze und Übereinkünfte. Naturgesetze müssen nicht in Form von Gesetzen und Verordnungen formuliert werden, denn sie verschaffen sich selbst ihr Recht: Dass die Schwerkraft gültig ist, merkt jeder sofort, der sich über sie hinwegsetzen will. Und wie das mit dem Klimawandel ist, merken wir schon und werden es noch deutlicher merken.

Ein Thema, das sich auch mit einer Art Naturgesetz in Verbindung bringen ließe,  ist ausgerechnet die bereits erwähnte Ungleichheit zwischen Armen und Reichen. Das ist keineswegs trivial. Alle wissen, dass die Ungleichheit erhebliche Sprengkraft gegenüber demokratischen Strukturen hat, dass den Ärmeren die Chancen geraubt werden, an den Errungenschaften unserer Zivilisation teilzuhaben, was ihnen die Perspektive eines Lebens im Elend immer näher bringt. Wenn Sie mich jetzt wieder an Weihnachten erinnern wollen: ja, ich weiß, das Kind in der Krippe! Das Verrückteste: die Ungleichheit nimmt auch hierzulande immer mehr zu, was an die Zustände im Kaiserreich erinnert. „Deutschland ist so ungleich wie vor hundert Jahren!“ 2

Eine Gruppe von holländischen Autoren hat sich gefragt, ob diese Ungleichheit nicht doch den Charakter eines Naturgesetzes hat 3: Im Vergleich zwischen menschlichen Gesellschaften und der Population an Pilzen, Bäumen, Darmbakterien, Algen, Fliegen, Nagetieren und Fischen im Amazonas zeigen sie, dass unter Zufallsbedingungen 1% oder weniger der Population 50% aller Ressourcen dominiert. Eine gegenteilige Wirkung üben natürliche Feinde aus, bzw. Institutionen, die den Reichtum ausgleichen sollen. Aber historische Forschung zeigt, dass solche Mechanismen uneffektiv werden, wenn Gesellschaften sich ausdehnen und an Wohlstand zunehmen. Dem entspricht die Ungleichverteilung des Reichtums in einer globalisierten Welt. Die Autoren betonen, dass Massnahmen gegen die Ungleichheit global angreifen müssen, wenn sie effektiv sein sollen. Immerhin scheint es möglich zu sein, etwas zu tun. Die Bewertung, ob das – angesichts des Zustands unserer Welt – eine gute Nachricht ist, will ich mal Ihnen überlassen.

Damit wir uns recht verstehen: Das ist ein wissenschaftlicher, hervorragend publizierter, kein moralischer Ansatz.

Übereinkünfte hingegen werden in unseren Sozialsystemen formuliert, sind menschengemacht und können im Unterschied zu Naturgesetzen auch durch Menschen geändert werden. Geändert werden könnte zum Beispiel die Übereinkunft, dass der Wert von Grund und Boden, und damit auch die Mieten der auf diesem Grund und Boden errichteten Häuser und Wohnungen ausschließlich dem Gesetz von Angebot und Nachfrage unterliegen. Interessanterweise hat diese Übereinkunft mit einem Naturgesetz gar nichts zu tun, wird aber wie ein solches behandelt. Und das, obwohl Lebensqualität und Zukunftschancen der Bewohner unserer Großstädte durch die Konsequenzen dieser Übereinkunft wesentlich verschlechtert werden. Ganz konkret schlage ich deswegen vor, dass die demokratisch gewählten Führer unserer Gesellschaft diese Übereinkunft ändern sollten. Was meinen Sie?

Eine andere Übereinkunft betrifft meinen persönlichen Albtraum:  die stationäre Medizin. Diese Übereinkunft besagt, dass der Betreiber eines Krankenhauses aus der Behandlung schwer kranker Menschen, – denn alle leichter Kranken werden heute ambulant behandelt, – Gewinn ziehen darf. Gewinn, den er in die eigene Tasche stecken, oder zur Deckung von Schulden verwenden kann, die nicht in der Behandlung dieser konkreten Patienten entstanden sind, sondern durch Unachtsamkeit oder medizinische Misswirtschaft der Krankenhausbetreiber in der Vergangenheit. Wie ich immer wieder deutlich zu machen versucht habe, hat diese Übereinkunft eine Systemänderung der Medizin zur Folge: Stationäre Medizin wird heute in erster Linie nach kapitalistischen Kriterien betrieben und erst in dritter oder vierter Linie nach Regeln der medizinischen Ethik, des Mitgefühls oder schlicht des zwischenmenschlichen Anstandes. Da dieses Vorgehen für die Qualität der Patientenbehandlung und eben auch für die Berufsethik der Ärzte nachhaltig miserable Konsequenzen hat, während es sich positiv ausschließlich auf die kapitalistische Gier auswirkt, meine ich, dass unsere Demokratie das ändern sollte. Was meinen Sie?

Natürlich gibt es noch viel mehr, meines Erachtens dringend änderungsbedürftige Übereinkünfte. Aber bleiben wir mal bei diesen beiden und fragen uns, was Änderung konkret heißen könnte. Soll Grundbesitz also enteignet werden? Ich glaube nicht, dass es auch nur den geringsten Sinn hätte, Modelle wiederzubeleben, deren Untauglichkeit historisch hinreichend gezeigt wurde. Einerseits. Andererseits ist ein gedeihliches soziales Zusammenleben für uns einzelne Individuen wie für unser Gemeinwesen als Ganzes von so hohem Wert, dass wir auf Regeln bestehen sollten, die ein solches Zusammenleben auch in den großen Städten in Zukunft ermöglichen. Grundstückpreise und Mieten müssen also in Bezug gesetzt werden zu den erzielbaren Einkünften einer repräsentativen Mehrheit, der in diesen Städten lebenden Menschen. Da die Einkommen bekannt sind, ist die Herstellung dieses Bezugs ein lösbares Problem. Grund- und Wohnungsbesitzer sollen als nach wie vor mit diesem Besitz Handel betreiben und Gewinn machen können, aber es gibt keinen ersichtlichen Grund, diesen in schwindelerregende Höhen wachsen zu lassen. Man muss ihn begrenzen! Eine solche Regelung hätte zusätzlich den Vorteil, dass sie die Spekulation mit Grund und Boden unattraktiv macht. Letzteres ist dringend notwendig, denn Immobilienspekulation ist nicht etwa eine unschuldige Möglichkeit der Geldvermehrung wie beim MONOPOLY, was Sie vielleicht an den Weihnachtsfeiertagen spielen, sondern führt in vielen Fällen zu strategischen Leerständen und zur Wohnraumvernichtung, wodurch Lebensqualität in den Städten völlig unnötig verschlechtert wird.

Sie sind herzlich eingeladen, über andere Alternativen nachzudenken, es sei denn, Sie halten es für eine gute Idee, München, Hamburg, Berlin & Co auf Dauer unbewohnbar zu machen. Derzeit verhandeln Parteien über die Voraussetzungen, nach denen sie Regierungsbeteiligungen eingehen wollen. Es wäre hoch an der Zeit, dieses Thema den Ihnen nahestehenden Politikern ans Herz zu legen. Ach sorry, ich weiß: Weihnachten!

Andere Frage: Sollen Krankenhäuser den privaten Betreibern weggenommen und nur noch vom Staat betrieben werden? Das wäre kaum sinnvoll, denn vielfach wurden Krankenhäuser mit der oft zutreffenden Begründung privatisiert, dass staatliche Betreiber nicht in der Lage waren, so komplexe Leistungserbringer wie Krankenhäuser effektiv zu betreiben.

Im Fall der stationären Behandlung wäre Abhilfe der Missstände aber viel einfacher: Medizinische und wirtschaftliche Leitung müssen getrennt werden, die Einhaltung der medizinisch-ethischen Regeln muss ebenso wie die wirtschaftlichen Ziele extern kontrolliert werden; im Konfliktfall muss die medizinische gegenüber der wirtschaftlichen Entscheidung priorisiert werden. Denn Krankenhäuser sind für die Medizin da! Würden Sie sich einen Herzkatheter schieben lassen, oder ein künstliches Hüftgelenk einsetzen lassen, wenn das wirtschaftlich attraktiv, aber medizinisch sinnlos wäre? Natürlich würden Sie das nicht tun, sofern Sie halbwegs bei Sinnen wären. Genau das passiert aber vielerorts, weil es keine unabhängige Kontrolle gibt und weil die wirtschaftliche Leitung die meisten Entscheidungen dominiert. Das ist Missbrauch von Patienten und Ressourcen, – Weihnachten hin oder her! Interessant wäre übrigens auch, was die Krankenkassen dazu meinen, die das Geld der derart miserabel behandelten Patienten verwalten und gutes Geld für immer schlechter werdenden Leistungen zahlen.

Damit wir uns recht verstehen: Bei diesen Vorschlägen handelt es sich nicht um komplexe Eingriffe in sensible Systeme, sondern um sehr schlichte Umsetzungen des gesunden Menschenverstandes. Oder, wenn Sie so wollen, um übersichtliche Korrekturen von ins Kraut geschossenen Missständen. Die haben sich entwickelt, weil wir Übereinkünfte wie Naturgesetze behandeln.

Es wird also nicht so einfach. Wie wäre es mit einem Weihnachtswunder? Das könnte zum Beispiel so aussehen, dass wir unsere Phantasie und unsere Kreativität mobilisieren, um die Dinge nicht so laufen zu lassen, wie sie laufen, sondern um wieder Verantwortung zu übernehmen, für unser Leben und das Leben unserer und aller Kinder, – für ein gutes Leben.

Hier gelangen Sie zur Übersicht aller bisher veröffentlichten Kapitel.

Quellen:

  • 1 SPIEGELonline vom 14. 12. 2017, David Böcking: Der große Graben
  • 2 SZonline 14. 12. 2017
  • 3 Marten Scheffer, Bas van Bavel, Ingrid A. van de Leemput, and Egbert H. van Nes: Inequality in nature and society, http://www.pnas.org/cgi/doi/10.1073/pnas.1706412114 (Diesen Hinweis verdanke ich wie viele andere gute Ideen, dem Peter!)
  • Fotos: pexels.com (bearbeitet)