Geld, mit dem wir unachtsam umgehen, führt dazu, dass Menschen in unserem Namen misshandelt werden.
26. Geld und Misshandlung!
„Ich muss immer wieder Patienten in ihrem Stuhlgang liegen lassen. Medikamente werden vertauscht oder vergessen. Patienten bekommen Druckgeschwüre, weil sie falsch gelagert werden.“ (Pflegekraft im Poolteam in einem Krankenhaus eines Konzerns)1.
Das stand in der ZEIT, am 16. November 2017, in einem Artikel über Zeitmangel und Personalnot. Eine Gegendarstellung habe ich bis heute nicht gefunden.

Stellen Sie sich vor, versuchen Sie es zumindest: Sie haben im Bett Stuhlgang, weil Sie nicht mehr allein aufstehen können und weil auf Ihr Klingeln niemand kommt. Allein die Tatsache, dass Sie ins Bett machen, katapultiert Sie mit einem Schlag 75 Jahre zurück, in den Kleinkindzustand. Jeder hat daran seine eigenen Erinnerungen, aber es war wohl in jedem Fall ein wesentlicher Schritt der Menschwerdung, nicht mehr im eigenen Stuhlgang zu liegen. Jetzt ist es wieder so weit. Sie schämen sich, Sie fühlen sich hilflos, ausgeliefert. Wann haben Sie sich zum letzten Mal geschämt? Ist etwas aus der Mode gekommen in unserer Gesellschaft. Ich komme noch darauf zurück.
Es ist furchtbar für Sie, dass Ihnen jetzt, – was heißt jetzt? Irgendwann! – ein fremder Mensch den Hintern abputzen wird. Man muss wohl anehmen, dass die Mann/Frau-Frage angesichts dieser Zustände vernachlässigt wird, und u.a. deshalb ist es für Sie als Mann schlichtweg furchtbar, dass Ihnen eine junge Frau den Hintern abputzen muss, es stinkt ja, es ist kein attraktiver Anblick, und dabei waren Sie auf Ihren Hintern mal ganz schön stolz! Und Sie als Frau fühlen sich weit jenseits Ihrer Schamgrenze verletzt, dass dieser Mann Sie jetzt dort anfasst. Sie können nicht mehr darüber entscheiden, dass ein Mann Sie anfasst! Sie haben im Pflegeheim vielleicht nicht mehr mitbekommen, dass es heute überhaupt nicht mehr für trivial gehalten wird, wann, wo und wie ein Mann eine Frau anfasst. Es ist strafbar, wenn ein Mann in der U-Bahn an den Hintern fasst. Sie hat jedoch niemand gefragt.
Lassen wir Sie mal im Stuhlgang liegen – seit dem November hat sich an den Zuständen auf Pflegestationen wahrscheinlich nichts wesentliches geändert – und wenden uns den anderen Ungeheuerlichkeiten dieses Drei-Zeilers zu – in der ZEIT-ausgabe füllten diese Aussagen eine ganze Seite: „Medikamente werden vertauscht oder vergessen“?2
Ich bringe als Psychiater viel Zeit damit zu, mit meinen Patienten über Nebenwirkungen zu sprechen. Nicht über vertauschte Medikamente. „Wie im Nebel …“, „Muskelkrämpfe“…, „kriege die Augen nicht mehr auf…“, „Übelkeit …“ und so weiter. Wenn Sie ein Medikament gar nicht brauchen, aber versehentlich bekommen, können Sie Gift drauf nehmen, dass die Nebenwirkungen es in sich haben, allein schon, weil die erwünschte – was ist in dieser Situation eigentlich noch erwünscht? – Wirkung natürlich ausbleibt. Auch das „vergessen“ eines Medikamentes, das Sie über Wochen genommen hatten, und das jetzt abrupt auf Null gefahren wird, ist der Hammer, weil Sie unter den Absetzeffekten leiden werden. Na ja, Sie haben es ja immer schon gesagt, dass Psychotherapie besser ist. Aha? Für Störungen, des Herzens, der Leber, der Niere? Träumen Sie weiter.
Noch was aus dem Gruselkabinett der alltäglichen Pflege, in Hamburg und anderswo: „… Patienten bekommen Druckgeschwüre, weil sie falsch gelagert werden…“3 Druckgeschwüre? Man nennt das auch Dekubitus, was Ihnen vermutlich auch nichts sagt. Dekubitus funktioniert so: Wenn Ihre Muskulatur kaum noch vorhanden, die Innervation und die Durchblutung Ihrer Haut reduziert ist, entstehen erst kleine, dann größer werdende oberflächliche Wunden auf der Haut, wenn zu lange Druck auf dieser Stelle ist. Diesen Druck kann man verhindern, wenn man auf die Lagerung achtet, umbettet, die Haut mit Alkohol massiert, und so weiter. Dazu braucht man ein gewisses Minimum an Zeit. Wenn die Pflegekräfte dieses Zeit nicht haben, weil auf einer geriatrischen Station nur eine fest angestellte Pflegekraft arbeitet, und ein bis zwei Hilfskräfte4, dann entstehen Druckgeschwüre, die sich schnell entzünden und stinken.
Interessant ist der Ausdruck „falsch gelagert“, weil er Ihnen einen Einblick in die Mechanismen der Schuldzuweisung gibt: das Pflegepersonal wüsste natürlich schon, was richtige Lagerung wäre, – für die Vermeidung eines Dekubitus braucht man keine nobelpreisverdächtige Forschung! – aber, Schwestern und Pfleger kommen nicht dazu. Sie können davon ausgehen, dass sie seelische Probleme damit bekommen, wenn sie etwas nicht machen, das zu den Basics guter Pflege gehört. Aber die Schicht hat nur 10 Stunden und den Dekubitus sieht man erst, wenn er da ist und sie sind eben nicht dazu gekommen.

Das Management des Krankenhauses oder Heimes, das höchstwahrscheinlich im Anzug zum Interview kommen wird, wenn es sich nicht verleugnen lässt, wird nicht sagen, das Personal hatte keine Zeit, weil wir zu wenige Stellen finanzieren wollen, weil Vorstand und Aufsichtsrat satte Gewinne haben wollen, – nein, das Management wird sagen: „Ihr müsst Euch besser organisieren!“ oder eben, „das Personal hat falsch gelagert.“ Verschleierung durch Sprache.
Sie zweifeln? Ist das wirklich alles so schlimm? Übertreibt die Presse nicht mal wieder? Wenn Sie wirklich, allen Ernstes glauben, dass die ZEIT, der Inbegriff eines gut-bürgerlichen Blattes mit hohem intellektuellem Anspruch, bei dieser Thematik übertreiben würde, dann ist Ihnen, bei allem Respekt, nicht zu helfen. Sie können ähnliches seit langem im SPIEGEL5 oder der SZ6 lesen. Sie können, wenn Sie das lieber mögen, auch #gutezeitenfürgutepflegeund #twitternwierueddel aufsuchen, sehr aufschlussreich!
Ich vermute, Ihr Zweifel hat einen anderen Grund: Wenn Sie glauben, was da steht, müssten Sie etwas tun, weil Sie oder Ihre lieben Eltern sonst selbst in ihrem Stuhlgang liegen werden, Medikamente einnehmen müssen, die gar nicht für Sie bestimmt sind, oder an ihrem, jetzt noch mit einer wunderbar eleganten Tätowierung verzierten Hintern ein ekliges Druckgeschwür haben werden.
Was tun?
Viel Phantasie ist dafür eigentlich nicht erforderlich. Sie könnten also zum Beispiel unseren designierten Finanzminister und gewesenen Hamburger Allerersten Bürgermeister anschreiben, anmailen, … warum die Hamburger Pflegebedürftigen so etwas ertragen müssen, was er an der Finanzierung des Pflegesystems in Deutschland zu ändern gedenkt, damit es nicht mehr möglich ist, dass private und öffentliche und kirchliche – ja wohl, auch die!! – Träger mit dem Elend der Pflegebedürftigen ihre Gewinne optimieren. Er kann das ja mit dem, einer christlichen Partei angehörenden, aber doch wohl eher neo-liberal agierenden designierten Gesundheitsminister absprechen.
Vielleicht noch wichtiger wäre es, darüber nachzudenken, wie sein kann, dass Geld verdienen und Misshandlung zusammenhängen. In diesem Fall ging es um alte Menschen, also um Ihre und meine Zukunft, aber es gibt noch jede Menge anderer Zusammenhänge. Es stimmt nicht, dass Geld nicht stinkt, sondern der Gestank hängt sehr davon an, wie wir es verdienen. Und zuzulassen, dass in unserem gar nicht so schlechten Gesundheitssystem Geld, das Menschen für ihre Pflege und Behandlung ein Leben lang eingezahlt haben, dafür verwendet werden kann, dass Krankenhausträger sich bereichern, das ist Beihilfe zur Misshandlung.
Davon werden wir noch häufiger hören.
Hier gelangen Sie zur Übersicht aller bisher veröffentlichten Kapitel.
Fußnoten:
- 1 „Wo bleibt denn die Pflegerin?“ ZEIT-HAMBURG vom 16. November 2017, Die ZEIT Nr. 47
- 2 „Wo bleibt denn die Pflegerin?“ ebd
- 3 „Wo bleibt denn die Pflegerin?“ ebd
- 4 „Wo bleibt denn die Pflegerin?“ ebd
- 5 Asklepios-Kliniken: Der kranke Konzern, von Kristina Knirke, Isabell Hülsen und Martin U. Müller, SPIEGELonline, 21.12.2016
- 6 „Die Krankenhäuser sind total überfordert“, von Michaela Schwinn, sueddeutsche.de am 16. 2. 2018