Das Schweigen der Ärzte

In der aktuellen Diskussion über Pflege-Notstand, Pflege-Missstand, Pflege-Katastrophe, schweigen die Ärzte. Wäre es nicht an der Zeit für eine Art #MeToo für die Pflegenden?

27. Das Schweigen der Ärzte

Sie schweigen. Okay, Mediziner müssen nicht überall mitreden. Pflege ist nicht ihre Baustelle.

Nicht? Wie jetzt? Was ist denn die Baustelle von Ärztinnen und Ärzten? Waren das nicht mal die kranken und alten Menschen, kurz Patienten genannt? Ist es nicht deren Würde, die gerade übel demoliert wird? Ihre Würde und die der Pflegenden? Was ist aus der Empathie geworden, die irgendwann mal ein Merkmal der Ärzte war? Warum drehen wir Ärzte uns weg und und zucken mit den Schultern, wenn wieder ein Katastrophenbericht über Pflege erscheint? Wir sehen doch die himmelschreienden Zustände, die Überforderung der Pflegenden, in den Krankenhäusern sowieso, aber auch in den Pflegeheimen, dort riechen wir sie vielleicht eher. Warum schließen wir die Augen, warum halten wir uns die Nasen zu?

Leiden wir Ärzte nicht selbst unter der sogenannten Ökonomisierung der Medizin? Wächst nicht der der Zeitdruck unerträglich, wenn auch die ärztliche Besetzung schlechter als grenzwertig ist? Was ist mit der Gefahr, Fehler zu machen? Ist die Stimmung denn nicht katastrophal genug? Ist Schweigen der neue Weg?

Warum solidarisieren sich Ärzte nicht mit dem Pflegepersonal? Mit dem Berufsstand, der ihnen am nächsten ist? Oder sind das inzwischen die Banker? Nein, ich will nicht fies sein, nicht schon wieder übers Geld reden, das ist sowieso nicht mehr das, was es mal war, Ärzte kriegen ihre Praxis nicht mehr verkauft und verschenken sie 1. Freie Unternehmer war einmal, angestellt sein ist die Devise, „Halbgötter in Weiß“ ist vorbei.

Solidarisieren ist ein großes Wort, – warum schweigen die Ärzte?

Ein Argument wäre, dass sie Nutznießer sind: das heißt, dass die Arztstellen auf Kosten der Pflegestellen vermehrt worden seien. Klar, ärztliche Leistungen lassen sich besser abrechnen. Für den einzelnen Arzt bringt das aber keine Vorteile, denn die Stellenausweitung führt nur dazu, dass noch mehr gemacht, noch mehr operiert wird, noch mehr Katheter geschoben werden.

Ärzte wissen doch ganz genau, was in der Pflege passiert, alle mussten ein Pflegepraktikum machen. Es gibt Freundschaften und Ehen zwischen Ärzten und Krankenschwestern, offene und nicht so offene Beziehungen unterschiedlicher Intensität sind keine Seltenheit. Warum also nicht?

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hätte da eine Idee! Nicht neu, aber wirksam. Machen Sie Druck. Das befreit ungemein. Ich weiß: moralisch-ethisch ist es nicht so einfach, im Gesundheitswesen zu streiken, keine Frage. Das Wohlergehen, manchmal das Leben von Patienten könnte gefährdet sein. Das ist ja auch das Dilemma der Pflegenden. Aber ist ein Rückzug auf moralisch-ethische Argumente angesichts dieser Realität nicht etwas feige? Würde eine ehrliche moralisch-ethische Haltung nicht doch etwas ganz klein wenig anderes verlangen?

Zum Beispiel: In grauer Vorzeit, kurz nach 68, haben die Ärzte mal in Berlin gestreikt, ich habe als Famulus staunend zugesehen. Der Streik bestand eigentlich nur darin, auf allen Totenscheinen „Todesursache ungeklärt“ anzukreuzen. Sehr wirksam war das, den Lebenden geschah kein Schaden und den Toten war es wohl egal. Werte Kolleginnen und Kollegen, wo ist Eure Fantasie geblieben? Das Einserabitur hat doch etwas mit Intelligenz zu tun. Und mit Kreativität!

Operateure, die nur noch das Lebensnotwendige operieren, Psychiater, die nur noch mit den Suizidalen sprechen, und alle anderen entlassen – das würde seine Wirkung nicht verfehlen, denn das ginge ans Geld, schnell und gewaltig. Junge Ärzte, die aus Zeitgründen leider nicht mehr in der Lage sind, die Dokumentation zu machen, die sie ohnehin hassen, – warum nicht? Da Sie viel jünger sind als ich, fiele Ihnen vielleicht noch was Interessanteres ein, vielleicht etwas digitalisiertes, voll im Trend? Zu verlieren hätten Sie nichts, vorausgesetzt, Sie bleiben solidarisch.

Hallo, Ihr Mediziner, höret die Signale! Es geht um die Pflege, es geht um die Medizin. Eure Chance, wieder eine bessere, menschenwürdigere und nicht nur geldwürdige Medizin, endlich wieder eine gute Medizin zu machen, die Chance, den Pflegenden und den Gepflegten ihre Würde zurückzugeben – diese Chance ist da. Jetzt. Und fürs Sozialprestige wäre es auch nicht schlecht.

Solidarisiert Euch mit den Pflegenden! Legt diesen maroden, von den Ökonomen der Krankenhäuser, der Krankenkassen, von den Politikern verunstalteten Medizinbetrieb lahm, bis sich etwas ändert, bis ihr den alten und jungen Patienten wieder in die Augen schauen könnt! Dass es infolge der Kommerzialisierung der forschenden Pharmaindustrie keine Durchbrüche bei der Demenztherapie gibt, ist eine Sache, aber gute Pflege der Dementen wäre so leicht zu haben!

Fordert! Was? Fordert eine Verdoppelung der Pflegestellen, überall!

Oh Schreck, so viele? Was das kostet! Klar: Die 8000 Stellen, die diese ach so große Koalition in Aussicht gestellt hat, sind angesichts von über 13.000 Pflegeeinrichtungen noch nicht mal ein schlechter Scherz, darüber besteht Einigkeit bei allen Betroffenen. 16.000, besser noch 26.000! Der Bundesrepublik geht es wirtschaftlich so gut wie nie. Da wäre es doch mal an der Zeit, nicht nur was für VW, Mercedes und Audi zu tun, für Helios, Asklepios oder Ameos, sondern für die Alten und Kranken. Eine Investition in die Zukunft.

Lasst euch nicht beschämen. Erinnert euch, dass ihr Medizin nicht – nur – studiert habt, um euer finanzielles Auskommen zu haben. Um das und um eure Stellen müsst ihr euch nicht fürchten. Die sind krisensicher. Aber: Wolltet Ihr den Menschen das Leben nicht mal besser machen, wolltet heilen?

Lasst euch das Bewusstsein, eigentlich doch gute Medizin machen zu können, nicht von den Verwaltungen vermiesen! Denen ist in den letzten Jahrzehnten überhaupt nichts Zukunftsweisendes eingefallen, nur neue Dokumentationen, neue sogenannte Qualitätskontrollen, die nur die Qualität der Ökonomisierung verbessern, aber den Patienten gar nichts nützen, und euch zu Tode nerven.

Solidarisiert euch! Es ist Zeit.

#Metoo für die Pflegenden!

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Fußnote:

  • 1 „Nach fünf Jahren Suche bin ich einfach müde“ Hausarzt Richard Beitzen im Interview mit Michaela Schwinn, SZ Nr. 79, Freitag, 6. April 2018, S. 6