Christliche und unchristliche Betrachtungen zu Pflege und Medizin

28. Interessante Zeiten!

Bei ZEIT Campus konnten Sie in der letzten Woche lesen, was Alexander Jorde jetzt macht. Wer das ist? Das ist der Pflegeschüler, der im letzten September die Bundeskanzlerin in Verlegenheit brachte, weil er sie fragte, wie es sein könne „ … dass Menschen in einem Land wie Deutschland stundenlang in ihren Ausscheidungen liegen müssen?“ Jetzt reist er mit dem Thema Pflegenotstand von Talkshow zu Talkshow, denn jetzt sind interessante Zeiten. Jetzt ist nämlich Jens Spahn Gesundheitsminister und hat vorgeschlagen, in einem Sofortprogramm 8.000 neue Pflegestellen zu schaffen. 8.000? Ihn scheint es nicht anzufechten, dass die tatsächlichen Zahlen sehr variieren, aber keinen Bezug zur Zahl 8.000 haben: der Arbeitgeberverband Pflege spricht von 30.000 unbesetzten Stellen, ver-di geht von 70.000 fehlenden Stellen aus und der Deutsche Pflegerat von 100.000, allein in den Krankenhäusern.

Was will der neue Gesundheitsminister mit 8.000 Stellen erreichen? Für die Diskussion ist auch vielleicht auch noch wesentlich, wie hoch dotiert diese Pflegestellen sein sollen. Eine Pflegekraft mit vielen Jahren Berufserfahrung bekommt zurzeit ca. 3.300 Euro. Alexander Jorde meint, das sei angesichts der Bezahlung eines Facharbeiters bei VW ein Witz und müsste mindestens bei 4.000 Euro liegen. Er argumentiert, dass Pflegekräfte nach den Regeln des freien Marktes wie Ingenieure oder Programmierer bezahlt werden müssten. Nicht zuletzt weil Pflegekräfte viel mehr Verantwortung tragen. Für Menschenleben!

Mir ist diese Argumentation sehr nahe, weil ich mich zu Beginn dieses Blogs mit der Frage beschäftigt habe, wie viel so ein einzigartiger Mensch wert ist (siehe Kapitel 4-5 „Der Wert eines Menschen“). Die Diskussion nimmt diesen Gedankengang für die deutsche Krankenhausrealität auf. Und wir dürfen zweifelsohne alle gespannt sein, was der Gesundheitsminister, der aus einer christlichen Partei kommt, im Bereich der Pflege bewegen wird.

Auch wenn Sie schon längst aus der Kirche ausgetreten sein sollten: das Christliche an dieser Partei ist in diesem Zusammenhang nicht ganz irrelevant, weil Nächstenliebe und die Fürsorge für Arme, Kranke und Schwache nicht etwa dem heute wieder sehr favorisierten neo-liberalen Gedankengut angehören, sondern christliche, quasi ur-christliche Gedanken sind. Neoliberal erscheint in diesem Zusammenhang allenfalls, dass die Einführung der Pflegeversicherung vor 23 Jahren durch den netten Arbeits- und Sozialminister Norbert Blüm mit einer Stärkung der Privatinvestoren einherging. Diese von derselben christlichen Partei gewollte Strukturänderung war die Voraussetzung, um an alten, pflegebedürftigen Menschen Geld verdienen zu können. Und zwar satt. Das kann man daran erkennen, dass der Pflegemarkt in dieser Gruppe, der immer mehr international agierenden Investoren, weiterhin äußerst beliebt ist, völlig ungeachtet der Pflegeskandale. Denn er bietet eine sichere Rendite, von den Pflegekassen garantiert und einen operative Gewinn/Bewohner/Tag, der mit 4,50 € genau so hoch ist, wie die Verpflegungskosten.1

Was die Pflege in den Krankenhäusern und Pflegeheimen angeht, ist jetzt also eine spannende Situation entstanden, denn der neue Gesundheitsminister hat es in der Hand, die himmelschreienden Missstände im Pflegebereich zu verändern. Mit den angekündigten 8.000 Stellen zusätzlich wird er das nicht erreichen können. Da seine Akzeptanz bei den Wählern nicht zuletzt an dieser Aufgabe gemessen werden wird, sollte er sich etwas Besseres einfallen lassen. Apropos Wähler: 2050 wird jeder siebte Mensch über 80 Jahre alt sein. Diese Menschen können jetzt 30 Jahre lang zur Wahl gehen. Sie auch.

Nicht nur in diesem Zusammenhang ist der Bezug auf christliches Gedankengut hoch aktuell. Sie haben ja wahrscheinlich mitbekommen, dass das große Bundesland Bayern seine Verwurzelung im christlichen Denken wieder stärker sichtbar machen will, als es die Äußerungen führender Landespolitiker, zum Beispiel zu den Migranten, in der jüngsten Vergangenheit vermuten ließen.

Nun gibt es sicher viele, die das Aufhängen von Kreuzen in allen öffentlichen Gebäuden als Symbol „christlich-abendländischer Prägung für eine ausnehmend geschmacklose und plumpe Wahlkampfstrategie des neuen Ministerpräsidenten halten. Dieser Einschätzung kann auch ich einiges abgewinnen. Andererseits darf man vielleicht ruhig gespannt sein, wie es mit der Annäherung der bayerischen Staatsregierung an das christlich-abendländische Denken weiter gehen wird. Denn der, dem sich der Söder Markus da annähert, hat ja nicht nur ganz andere und viel härtere Zeiten überdauert, als die heutigen, in denen die CSU Wahlkampf macht, sondern diese uralte Botschaft hat viele erfreuliche Implikationen, besonders für geflohene, arme und kranke Menschen, mit denen es der Söder und sein Vorgänger bisher ja nicht so hatten. Da gäbe es schon noch eine ganze Menge Nachholbedarf für die CSU.

Und gerade Bayern hat es ja schon nötig, seine christlich-abendländischen Hausaufgaben nachzuarbeiten, auch und gerade im Bereich der Krankenhilfe: die Landeshaupt München – bekanntlich Sitz einer glanzvollen Oper, vieler exzellenter Theater, zweier hervorragender Universitäten, etlicher Max-Planck-Institute, toller Museen, um nur ein paar Highlights zu nennen, – hat zwar so einen hohen medizinischen Standard, dass Menschen aus aller Welt zu den Koryphäen reisen, um sich optimal behandeln zu lassen. Doch dieses herrliche München ist immer häufiger nicht mehr in der Lage, die Kinder seiner Bürger medizinisch zu versorgen, wenn sie das Pech haben sollten, schwerkrank und akut intensivstationspflichtig zu werden! 2 Diese Kinder müssen nach Augsburg, Landshut oder Traunstein gebracht werden. Auch schöne Städte, zweifellos, aber warum hat München das nötig? Stationen und hochmoderne Geräte gäbe es ja, aber das Personal fehlt. Die Gründe sind wie immer, wenn es um Medizin und das Geld geht, äußerst komplex: Personalkosten in der Kindermedizin liegen um 30% über denen der Erwachsenenmedizin, weil Kinder, – wer hätte das gedacht? Na, jeder, der Kinder hat! – personalintensiver sind als Erwachsene. Deshalb betreiben private Träger so gut wie keine Kinderkliniken und öffentliche wollen das Personal nicht finanzieren.

Hat der, zu dem der Söder gerade seine Zuneigung entdeckt, nicht mal gesagt: „Lasset die Kinder zu mir kommen …“? Hochleistungsmedizin, mit dem ausschließlichen Zweck des Geldverdienens gab es ja damals noch nicht, aber man kann sich schon vorstellen, wie die Stellungnahme von Jesus ausgefallen wäre. Um sich das auszumalen, muss man eigentlich noch nicht einmal christlich-abendländisch geprägt sein.

Na ja, und im Fall der Weltstadt mit Herz kommt noch ein Problem dazu, an dem sich die Medien längst abgearbeitet haben: Normale Menschen, normale Ärzte, normale Schwestern und normale Pfleger können in München nicht mehr wohnen, ganz einfach, weil sie die Mieten nicht mehr bezahlen können. Darum will sich der Bayerische Ministerpräsident auch noch kümmern. Schaugnmeramoi.

Der Direktor der Kinderchirurgie in der renommierten Haunerschen Universitätskinderklinik, Prof. Dietrich von Schweinitz, übernahm vor 15 Jahren eine Klinik mit 62 Betten, die heute auf 32 runtergespart wurden, von denen zurzeit wegen Personalmangels noch 16 belegbar sind. Von ihm stammt folgendes Zitat: „Es kann doch nicht sein, dass in der reichsten Großstadt Deutschlands akut kranke Kinder nicht mehr versorgt werden können. Die Frage ist: was wollen wir uns als Gesellschaft für unsere Kinder leisten.“3

Ja, was? Für unsere kranken Kinder, für unsere kranken Erwachsenen, für unsere kranken und pflegebedürftigen Alten? In diesem unserem christlichen Abendland.

Interessante Zeiten!

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Fußnoten: