Die ZEIT veröffentlichte am 2. April 2020 einen Beitrag zur Corona-Krise unter der Überschrift „Wie schützen wir die Schwachen?“. In einem Gespräch zwischen dem „Chef des Ethikrats“ Professor Peter Dabrock, und dem „bekanntesten Jesuiten des Landes“, Klaus Mertes, wurde über die Frage gestritten, wie strikt Besuche bei Alten und Sterbenden begrenzt werden dürfen. (1)
Zwei Männer, ein „Chef“, ein „bekanntester“. Warum nicht zwei Frauen? Zum Beispiel zwei Altenpflegerinnen? Oder zwei Töchter von Hochbetagten, also aus der Gruppe, die sich am häufigsten um Väter oder Mütter kümmern? Aber es geht auch um Sterbende und vielleicht glaubt die ZEIT ja, darüber könnten Männer profunderes sagen. Theologen, evangelisch, katholisch. Es gibt auch evangelische Theologinnen, sogar katholische, aber die sind wahrscheinlich nicht repräsentativ genug, um in so einer wichtigen Frage gehört zu werden. Der katholische Herr ist Klaus Mertes, Jesuit. Er ist vor allem bekannt, weil er die Missbrauchsfälle am Canisius-Kolleg aufgedeckt hat und unermüdlich versucht, seine Kollegen zu einer angemessenen Verarbeitung dieses Problems zu bringen. Damit fällt er als Repräsentant seiner Kirche nun eher wieder aus. Man hätte auch einen Rabbi einladen können, einen Vertreter des Islam oder des Buddhismus. Zu Vergänglichkeit haben die Buddhisten ja schon eine ganze Menge zu sagen. Wie auch immer.
Die Schwachen sollen geschützt werden. Schwach? Man meint wohl die Gruppe der durch das Virus Gefährdeten. Das sind Alte und Kranke. Eigentlich ist es umgekehrt: 99% der in Italien Gestorbenen hatten mindestens eine schwere Erkrankung, 1% starben nur so, ganz überwiegend waren sie alt.
Ich tue mich mit dem Begriff „schwach“ etwas schwer. Zur Gruppe der Gefährdeten gehöre ich zwar – ich bin 71, aber schwach fühle ich mich eigentlich nicht. Ich fühle mich noch nicht einmal besonders alt. Na ja.
Ich soll also geschützt werden? Eine gute Sache, ohne Zweifel, denn wenn die Alten den Jungen egal wären, bekäme ich möglicherweise Angst. Trotzdem ist mir der vehemente Vorsatz, meine Altersgruppe und mich zu schützen nicht ganz geheuer. Möglicherweise hängt das mir dem Umstand zusammen, dass ich bisher – noch? – im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte bin, geschäftsfähig. Und deswegen bei der Frage, ob und wie man mich schützen solle, gerne mitreden würde. Ja, auch beim „ob“: vielleicht will ich gar nicht geschützt werden? Und beim „wie“ schon allemal.
Nun werden Sie vielleicht sagen, dass ich als zwar berenteter, aber noch arbeitsfähiger 71-jähriger mit mehr oder weniger klarem Verstande sowieso nicht in die Gruppe der „Schwachen“ gehöre; es ginge um alte Menschen in Alten- und Pflegeheimen. Und die dürfen nicht mitreden? Ist das jetzt das „abstraktes Grundrechtspathos“, das der Professor Dabrock meint? Auf ihn komme ich gleich, ich bin noch bei der Gruppe der alten Menschen in Alten- und Pflegeheimen, also der Gruppe, zu der ich noch nicht, aber möglicherweise in ein paar Jahren gehöre. Sie meinen, diese Gruppe sei ja dement und dürfe deswegen nicht mitbestimmen? Das ist bei allem Respekt vor denen, die zur Gruppe der Bestimmer gehören, so wohl nicht richtig, denn die Bewohner von Alten und Pflegeheimen sind ein ziemlich heterogener Haufen, viele sind in der Tat schwer dement, eine ganze Menge leicht, aber viele sind auch aus anderen Gründen dort: weil sie chronisch körperlich krank sind, nicht mehr in der Lage, sich selber zu versorgen. Also könnten viele von denen noch eine rechtsrelevante Meinung dazu haben, ob ihnen jemand „die Hand halten“ solle, oder nicht, um den Titel des o. g. Interviews aufzunehmen. Doch all diese Menschen sind nicht gefragt worden.
Nun finde ich das meiste, was die Bundesregierung in der Corona-Krise unternommen hat, ziemlich gut. Die Epidemie war zwar von Experten längst angekündigt worden und man hätte sich darauf einrichten können. Diese Ankündigungen wurden aber von niemandem ernst genommen, mich selbst eingeschlossen, also muss man improvisieren. Die bisherigen Reaktionen und Maßnahmen finde ich vernünftig.
Aber auch wenn ich mit dem Kurs der Regierung einverstanden bin, die Kanzlerin und ihr Team voll respektiere: Warum hat man die Alten nicht selber gefragt? Es ging alles zu schnell und man musste das Schlimmste abwenden? OK. Nachdem man endlich aufgewacht war und realisierte, dass es richtig bedrohlich werden könne, musste gehandelt werden, nicht gefragt. Das ist so im Ausnahmezustand, auf den sich Professor Dabrock beruft. Die ZEIT meint zwar, der sei gar nicht ausgerufen worden, aber Professor Dabrock geht von so was aus. Möglicherweise ist er als Chef des Ethikrats von der Bundesregierung gefragt worden. Also, am Anfang konnte man nicht fragen. Aber jetzt? Hätte es in der Zwischenzeit nicht die Gelegenheit gegeben, auch mal die Betroffenen, ihre Rechtsbetreuer, – jeder Demente hat eine Person, die seine rechtlichen Interessen wahrnimmt, – oder die Menschen fragen können, die alte Menschen, – pardon Schwache, – pflegen? Man könnte das immer noch tun.
Die ZEIT fragt zwei Theologen. Ist die Mehrheit der Alten denn religiös? Wahrscheinlich nicht. Eher wahrscheinlich ist, dass die Chefredaktion der ZEIT davon ausgeht, dass moralisch-ethische Fragen am besten von Theologen beantwortet werden. Ich bin mir bezüglich der besten Antwortgeber zu solchen Fragen zwar nicht so sicher, aber ich frage mich, ob es keine alten Theologinnen und Theologen gibt, also Menschen mit Selbsterfahrung auf diesem Gebiet? Ich kenne einige, tatsächlich hochbetagte, die noch sehr klar im Kopfe sind.
Was bringt Selbsterfahrung? Geht es nicht um eine Kontaktsperre für mich alten Menschen, die dazu führt, dass ich alle mir nahestehenden Menschen bestenfalls noch auf 10 Meter Entfernung und durch dicke Glasscheiben getrennt, oder in der Mehrzahl der Fälle überhaupt nicht sehen kann? Wäre es da nicht wichtig, eine auf Erfahrung gegründete Meinung zu bekommen? Und „open end“? Professor Dabrock argumentiert in dem Interview rechtlich zutreffend immer wieder, dass es nicht um eine „grundsätzliche, sondern eine zeitliche Einschränkung von Selbstbestimmung“ handele. Als Mertes kräftig dagegen hält, sagt er: „Nein, es (das Selbstbestimmungsrecht) wird nicht grundsätzlich verwirkt, sondern vorübergehend eingeschränkt.“
Abgesehen davon , dass ich „verwirkt“ eine interessante Wortwahl finde, im Internet steht u. a. „durch eigene Schuld einbüßen, sich verscherzen“ – geht es mir um die unklare Definition des „Zeitlichen“ oder „vorübergehend“.
Denn Letzteres ist im Fall von Hochbetagten, die ihre normale Lebenserwartung – 77 bei Männern, 82 bei Frauen – schon längst überschritten haben, nicht so trivial, wie bei 25- oder 50-jährigen. Ein alter Mensch mag sich fragen: werde ich meine Tochter, meinen Sohn, mein süßes Enkelkind, in der von mir noch erwarteten Lebenszeit überhaupt nicht mehr oder noch einmal sehen? Würde es mir nicht gut tun und mein Leben verlängern, wenn meine langjährige Lebenspartnerin mich alle paar Tage besuchen könnte, und meine Hand halten? Falls Sie sich das nicht vorstellen können, versuchen Sie´s mal mit Empathie.
Und vielleicht will der alte Mensch sowieso sterben, weil das Leben zwar gut war, aber jetzt ziemlich furchtbar ist, weil alles alles weh tut, weil die Freunde schon lange tot sind. Und selbst wenn er nicht an Corona sterben will, würde er sich bei der Güterabwägung doch möglicher Weise dafür entscheiden, lieber seine Angehörigen zu sehen, als isoliert zu sein. Seine Meinung ist aber wurscht, denn er wird nicht gefragt.
Warum nicht? Die Folgen wären doch leicht zu organisieren. Die einen wollen geschützt werden, die anderen nicht, oder umgekehrt. Man könnte das in den Altenheimen nach Stockwerken trennen, in die einen haben die Angehörigen Zugang, in die anderen nicht. Aber warum wird nicht gefragt?
Gefragt werden Professor Dabrock und der Jesuit Mertes.
Peter Dabrock ist ein deutscher evangelischer Theologe und Professor für Systematische Theologie mit dem Schwerpunkt Ethik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. 2012 wurde Dabrock in den Deutschen Ethikrat berufen und 2016 zum Vorsitzenden des Deutschen Ethikrats gewählt. Mir ist er zuerst aufgefallen, weil er im letzten Februar das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sterbehilfe kritisierte: „Der Lebensschutz wiegt nichts. Die Waage neigt sich bis zum Anschlag in Richtung uneingeschränkter Autonomie.“ (2)
Ich selbst hatte als Psychiater mit dem Urteil auch meine Probleme, neige aber bei Urteilen des Verfassungsgerichts dazu, nicht das höchste Gericht unseres Landes, sondern meine eigene Meinung zu hinterfragen. Jedenfalls bringt Professor Dabrock auch in dem jetzigen Interview seine Geringschätzung „uneingeschränkter Autonomie“ voll zum Ausdruck: „… zur Freiheit gehört mitunter, zum Schutz anderer eigene fundamentale Bedürfnisse zurückzustellen.“
Geht es nicht darum, zum Schutz der „Schwachen“ deren fundamentale Bedürfnisse zurückzustellen?
Ich finde, dass man Menschen, deren Leben man einschränkt, zu diesen Einschränkungen befragen sollte, weil man sonst Gefahr läuft, ihre Würde zu verletzen. Man muss sie hören, auch wenn man diese Meinung nicht immer berücksichtigen kann. Das Anhören hätte den Vorteil für die Betroffenen, dass man eine Einschränkung so klein wie möglich halten könnte, wenn man wüsste, dass sie für die Betroffenen unerträglich ist. Es geht um Würde.
In unserem Land, in unseren Krankenhäusern, den Alten- und Pflegeheimen Ist die Würde alter Menschen ein schwieriges Thema. Der Grund liegt keineswegs in der Einstellung derer, die dort arbeiten, sondern in den unzureichenden Mitteln. Zurzeit kriegt man das weniger mit, weil Außenstehende ja gar nicht rein dürfen. Aber glaubt irgendjemand, dass der Pflegenotstand durch Corona besser geworden sei? Und die Angehörigen, die oft Teile der Pflege und Fürsorge übernommen hatten, sind jetzt auch ausgesperrt.
Die Altenpflegerin Eva Ohlert sagte „Die Würde des Menschen ist altersabhängig“. (3) Das trifft das, was derzeit in diesem unserem demokratischen Land passiert, leider ziemlich gut.
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Quellen:
- Evelyn Finger und Charlotte Parnack: Die Hand halten oder nicht? DIE ZEIT Nr. 15., 2. April 2020 S. 29
- Der Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Peter Dabrock im Interview mit Matthias Dobrinski. SZ.de vom 27. Februar 2020
- Verena Mayer und Hannah Wilhelm interviewen Eva Ohlerth: Die Würde des Menschen ist altersabhängig.“ Süddeutsche Zeitung, Nr. 73, 27. März 2020, S. 20