In der jetzigen Pandemie-Krise wird deutlich, wie schräg unser Verhältnis zu Kindern ist. Obwohl es „unsere“ Kinder sind. Die Verknüpfung mit dem Possessivpronomen signalisiert ja im Allgemeinen, dass mir, uns etwas besonders wichtig ist: mein Sohn, mein Porsche, meine Frau, mein Haus und nicht zuletzt mein Geld. Bei „unseren“ Kindern scheint es aber mit der Wichtigkeit nicht so weit her zu sein. Den letzten Blog Die Würde der Alten und Schwachen hatte ich mit dem Zitat abgeschlossen: „Die Würde des Menschen ist altersabhängig“ (1). Das gilt nicht nur für die Älteren.
Zur Zeit stehen Lockerungen an, viel soll gelockert werden, in Hamburg machen die Läden auf, in verschiedenen Bundesländern darf man wieder Gottesdienste besuchen, man darf allein oder zu zweit wieder Sport im Freien machen, die deutsche Wirtschaft scharrt mit den Hufen, und, ganz wichtig:
„Der deutsche Profi-Fußball wartet darauf, dass die Politik grünes Licht gibt, bald wieder den Spielbetrieb aufzunehmen. Ein konkreter Termin steht zwar noch nicht fest, aber DFL-Chef Christian Seifert ließ am Donnerstag wissen, „wenn es dann der 9. Mai wäre, wären wir bereit“.(2)“
Bei Anne Will ging es zwischen den Lockerungsbefürwortern und den Vorsichtigen sehr bewegt zur Sache. Während Laschet und Lindner vehement eine größere Öffnungsbereitschaft einforderten, mahnte Lauterbach zur Vorsicht und die Wissenschaftsjournalistin Christina Berndt meinte:
„Wir sollten erst mal unsere Hausaufgaben machen und einen Schritt nach dem anderen gehen.“ (3)
Hausaufgaben, – da war doch was. Wer macht Hausaufgaben? Ach ja, die Kinder! Wer lockert die Kinder? Hamburgs Familiensenatorin Leonhard sprach die goldenen Worte:
„Wenn wir nicht wollen, dass die Eltern aus Verzweiflung irgendwann wieder die Kinder durch Großeltern und andere betreuen lassen, dann müssen wir dieses Thema jetzt intensiv abwägen.“ (4)
Konnten die Familien- und Bildungsministerinnen und -minister nicht schon ein paar Wochen lang „intensiv abwägen“? Auch am 27 4. 2020 will
„… Nordrhein-Westfalens Familienminister Joachim Stamp keine falschen Erwartungen wecken. „Einen Fahrplan mit festen Terminen aller Länder kann und wird es nicht geben“, teilte er nach einer Konferenz der Familienminister von Bund und Ländern mit. Es solle vielmehr ein Rahmen geschaffen werden, in dem die Länder regional und länderspezifisch ihr eigenes Tempo gehen können. Bis zum 6. Mai sollen die Kindertagesstätten für den regulären Betrieb noch bundesweit geschlossen bleiben.“ (5)
Bei „Fahrplan“ assoziiert man ja „Bundesbahn“ und wenn man dann noch hört, dass die Länder ihr „eigenes Tempo“ gehen sollen, dann fragt man sich, ob Stamp (FDP) mit „Tempo“ nicht etwas ganz anderes meint als die betroffenen Familien. Dabei kommt er doch aus Laschets Bundesland, der auf Drosten komm raus um fast jeden Preis alles lockern will.
In den unterschiedlichen Bundesländern gibt es unterschiedliche Bestrebungen, mit den Schulen wieder zu starten, irgendwie geht es ab dem 4. Mai wieder los, aber nur für höhere und Abschlussklassen. Über die jüngeren Schüler findet man wenig bis nichts. Wie über die Kitas.
Die frühere Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU), aus der gleichen Partei wie Laschet, sagte:
„Man lässt diese Familien komplett im Stich, das finde ich unglaublich. … Ihre Eltern sind im Home-Office und können ihre Kinder daher gar nicht adäquat betreuen, sondern müssen sie den halben Tag mit dem iPad abspeisen…“
So sie sich denn eines leisten können.
„Im besten Fall ist es für die Kinder eine anregungsarme Zeit, in der sie ihre Freunde nicht sehen können, in der sie ohne soziale Kontakte sind, die in dem Alter ja unglaublich wichtig sind. In vielen Fällen aber wird es viel schlimmer sein …“ (6)
Die kleineren Kinder werden weiter weggeschlossen, weil man in Ihnen potentielle „Virenschleudern“ sieht. Was wissenschaftlich offenbar gar nicht stimmt:
Aus den wenigen bislang vorliegenden Studien ist bekannt, dass Kinder und Jugendliche seltener und meist nur leicht an einer Infektion mit SARS-CoV 2 erkranken als Erwachsene (siehe u.a.: P. Zimmermann und N. Curtis: Coronavirus Infections in Children Including COVID-19, The Pediatric Infectious Disease Journal 2020). In Deutschland entfallen bislang ca. 3 % aller registrierten Infektionen auf Kinder und Jugendliche bis 14 Jahre (RKI Lagebericht). Deren Bevölkerungsanteil macht jedoch 13 % aus. Ursachen der Diskrepanz sind nicht bekannt. Kinder werden möglicherweise seltener getestet oder sie infizieren sich weniger häufig. …
Erste Fallstudien zeigen, dass eher Erwachsene Kinder anstecken als umgekehrt. Es bleibt daher unklar, wie wichtig Kinder für die Verbreitung des Virus in der Bevölkerung sind; die bisherigen Daten legen nahe, dass sie bislang für das Voranschreiten der Pandemie eine untergeordnete Rolle spielen.“ (7)
Aber Wissenschaft scheint ja nicht die Stärke von so richtig tatkräftigen Politikern wie Laschet und Stamps Parteivorsitzendem Lindner zu sein. Dabei geht’s den deutschen Kindern im Vergleich noch super: in Spanien waren die Kinder 4 Wochen eingesperrt, in der Türkei sind sie es noch immer. Das eine ist immerhin ein EU-Land, das andere hält uns die Flüchtlinge vom Leibe. Apropos Flüchtlinge: wollte die EU nicht Tausende von Flüchtlingskindern aufnehmen?
„Wenn jetzt 50 unbegleitete Kinder aus der Ägäis nach Deutschland kommen – zwölf weitere hat man diese Woche schon nach Luxemburg ausgeflogen -, dann wird es Politiker geben, die das als Akt der Humanität darstellen werden. Sie sollten besser vor Scham schweigen.“ (8)
Ein mutiger Journalist. Es geht doch nur um Kinder. Kinder, mit denen unsere Gesellschaft macht, was sie will. Die sie im freundlichen Fall einfach wegsperrt, Ihnen „Hausarrest“ gibt (Türkei!), oder im schlimmeren Fall in Flüchtlingslagern dahinvegetieren lässt.
Ich bin kein Experte für Kinder und Jugendliche, obwohl ich auch vier „habe“. Aber mit Interesse habe ich eine „Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin“ entdeckt, den Dachverband der kinder- und jugendmedizinischen Gesellschaften. Also Expertise satt. Offiziell verfügbar. Das obige Zitat zur Kindern und SARS-CoV 2 stammte von dieser Akademie. Jede Politikerin und jeder Politiker könnte sich bei denen informieren. Doch offensichtlich tut das keiner.
Diese Akademie kann sich aber auch noch deutlicher ausdrücken. Zum Beispiel wenn es um die Menschenwürde geht. Nach deren Meinung haben auch die Kinder eine:
„ … Kinder und Jugendliche wurden in den bisherigen Entscheidungsprozessen nicht als Personen mit ebenbürtigen Rechten gesehen, sondern als potentielle Virusträger. Sie wurden in ihren Lebenswelten massiv eingeschränkt, nicht zum eigenen sondern zum Schutz Anderer. Die Betrachtung von Kindern nicht aus ihrer eigenen Perspektive sondern als „Mittel zum Zweck“ widerspricht ihrer persönlichen Würde. Sie werden nicht gefragt, was sie in dieser Situation benötigen und was sie vermissen, was ihnen gut tut und was die Gesellschaft für sie tun kann. In den politischen Beratergremien fehlen Experten für Kinder- und Jugendliche, so sind keine Kinder- und Jugendärzte und keine Pädagogen vertreten. Ein großer Teil der Bevölkerung wird somit überhaupt nicht berücksichtigt. …“ (9)
Hübsch, wie klar Wichtiges ausgesprochen werden kann.
„Die Betrachtung von Kindern … als „Mittel zum Zweck“ widerspricht ihrer persönlichen Würde. Sie werden nicht gefragt, was sie in dieser Situation benötigen und was sie vermissen, was ihnen gut tut und was die Gesellschaft für sie tun kann“.
Damit könnten wir doch mal anfangen: Kinder fragen, was sie vermissen und was ihnen guttut. Und das dann umsetzen, ruhig auch länderspezifisch, wie Herr Stamp (FDP) meint. Kinder und Jugendliche bis 14 machen 13% der Bevölkerung aus.
Hier gelangen Sie zur Übersicht der bisher veröffentlichten Kapitel.
Quellen:
- Verena Mayer und Hannah Wilhelm interviewen Eva Ohlerth: Die Würde des Menschen ist altersabhängig“, Süddeutsche Zeitung, Nr. 73, 27. März 2020, S. 20
- „Quarantäne bis Saisonende?“, tagesschau.de vom 24. 4. 2020
- Peter Luley: „Das ist total auf Kante genäht“, spiegel.de 27.04.2020
- „Familienminister arbeiten an Fahrplan für schrittweise Kita-Öffnung“, spiegel.de 25.04.2020
- „Einen Fahrplan mit festen Terminen wird es nicht geben“, spiegel.de 27.04.2020
- Kristina Schröder im Interview mit Henrike Rossbach: „Ich glaube, dass es Kinderseelen gibt, in denen wir jetzt viel anrichten.“ Süddeutsche Zeitung Nr. 95 vom 24. April 2020
- Stellungnahme der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin e.V. zu weiteren Einschränkungen der Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie mit dem neuen Coronavirus (SARS-CoV-2) vom 20. 4. 2020, dakj.de
- Lothar Lenz: Weniger als ein Feigenblatt. Tagesschau.de vom 18.04.2020
- Stellungnahme der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin e.V. ebd
- Quelle der Fotos: pexels.com