Geld hat uns im Griff. Als Einzelne und als Gesellschaft. Viel mehr, als sich die am Geld Interessierten eingestehen wollen. Um zu verstehen, wie das Geld unser Leben bestimmt, lohnt es sich, bei uns selbst anzufangen.
20. Macht Geld glücklich?
Shoppen ist toll! Neulich hatte ich vergessen, dass verkaufsoffener Sonntag war. Als ich mit meinem Hund spazieren ging, wurde ich plötzlich von Menschentrauben zur Seite geschoben, weil ich zufällig auf eine Straße mit vielen unerwartet offenen Geschäften geraten war. Die Möglichkeit, an einem freien Tag einkaufen zu können, scheint enorm verlockend zu sein. So verlockend und anscheinend auch befriedigend, dass Sie sich sogar an einem Sonntag, an dem Sie faul sein könnten, ans Meer fahren oder einfach nur lesen, den Sie mit Ihrer Liebsten im Bett zubringen könnten, lieber durch volle Geschäfte drängen, um dann prall volle Einkauftüten nach Hause zu schleppen.
Foto: Manfred Koschabek
Der sogenannte Einzelhandel, der inzwischen in der Mehrzahl aus Ketten besteht, deren Läden Sie in fast jeder Stadt finden, begrüßt diese Sonntage, denn Sie lassen dann Ihr Geld bei ihm. Die Internetversion, bei der Sie über Zalando, Amazon etc. immer, zu jeder Tages- und Nachtzeit shoppen können, zeigt unglaubliche Zuwächse. Warum sind Sie so versessen darauf, Ihr Geld auszugeben?
Es scheint für sehr viele ein wesentlicher Aspekt des Geldes zu sein, sich Dinge kaufen zu können, die sie irgendwie befriedigen. Ich persönlich halte Einkaufen eher für ein notwendiges Übel, aber die Frage ist schon interessant: Was passiert beim Shoppen? Kaufen Sie sich Glück?
Glück! Du meine Güte! Ist das nicht etwas hoch gehängt? Heutzutage ist es doch schon ganz nett, sein Auskommen und regelmäßig ein bisschen Spaß zu haben.
Da gibt es nun diesen Text, der schon fast 250 Jahre alt ist: „We hold these truths to be sacred & undeniable; that all men are created equal & independent, that from that equal creation they derive rights inherent & inalienable, among which are the preservation of life, & liberty, & the pursuit of happiness.“ (1)
Sie sind also mit angeborenen und nicht zu veräußernden Rechten ausgestattet. Dazu gehört nicht nur das Recht auf Leben und Freiheit, sondern auch das Recht, Ihrem persönlichen Glück nachzugehen. Persönlich, individuell, einzigartig. Passt ja irgendwie zum Thema Einzigartigkeit. Da diese berühmten Sätze nicht ausformulieren, was mit „happiness“ gemeint ist, bekommen Sie erst mal die Freiheit, das einzusetzen, was Ihnen wichtig ist. Wollen Sie tatsächlich „Geld“ einsetzen? Macht Geld glücklich?
In der Literatur und im Internet hat das Glück einen ziemlichen Boom hinter sich. Es wird allerdings in unterschiedlichen Ländern und sozialen Schichten sehr unterschiedlich definiert (2).
Foto: Manfred Koschabek
Die Forschungsgruppe des Schweizer Wirtschaftswirtschaftlers Bruno Frey hat sich mit dem Zusammenhang von verdientem Geld und Glück beschäftigt und herausgefunden, dass Menschen mit höherem Einkommen ihr subjektives Wohlbefinden tatsächlich höher bewerten als Ärmere (3). Für diese Erkenntnis hätten Sie wahrscheinlich keine wissenschaftliche Studie gebraucht. Aber ganz so trivial ist das nicht.
Was dann folgt, beschreibt Angus Deaton, der 2015 das Wirtschafts-Analog zum Nobelpreis bekam, im internationalen Vergleich (4): “…Poverty generates misery, but beyond a certain point (about $ 70.000 a year), additional money does nothing to improve happiness, even though those with more money report that they have better lives…”
Wenn Sie Ihr Einkommen vermehren können, vermittelt Ihnen das ein Hochgefühl, aber nur so lange, bis Sie etwas mehr als den Gleichstand mit Ihrer Peergruppe erreicht haben, also mit den Leuten, auf deren Meinung Sie etwas geben, mit denen Sie zusammen arbeiten, in deren Gegend Sie wohnen, mit denen Sie grillen und Ihr Feierabendbier trinken, oder vielleicht auch Fußball spielen. Viel mehr Geld zu haben als die, wäre sicher nett, wird aber nicht mehr als Glück erlebt. Geld macht also nur bedingt glücklich.
Andererseits macht das Fehlen von Geld, also Armut, sehr unglücklich. Nur den wenigsten, außer den unmittelbar Betroffenen dürfte bewusst sein, was es bedeutet, kein Geld zu haben. Armut ist in körperlicher und seelischer Hinsicht von Unglück nicht zu trennen. Der Bochumer Psychologe Jürgen Margraf, ein international renommierter Angstforscher, befragte Menschen aus der sozialen Unterschicht nach ihren Befindlichkeiten und ihrer Lebenseinstellung (5):
Tägliche Aktivitäten sind Quelle von Schmerz und Langeweile 17, 6%
Künftiges Leben ist ohne Sinn und Zweck 19,7%
Als Person nicht viel wert 20,6%
Starke Spannungen mit nahestehenden Personen 22,1%
Versuchen Sie mal, sich empathisch in einen Menschen hineinzuversetzen, der solche Aussagen macht, und das vor allem in dieser Menge und Kombination. Dieses Ausmaß an Unglück ist so unfassbar, dass es schon fast schwerfällt, Mitgefühl zu empfinden. Möglicherweise haben die Armen auch deshalb so gar keine Lobby!
Als Psychiater würde ich sagen, dass solche Antworten einer schweren Depression entsprechen, was mit der bekannten Beobachtung korrespondiert, dass Depressionen und Armut eng verbunden sind. Und da Depressionen ein Bedingungsfaktor schwerer körperlicher Krankheiten, wie Herz-Kreislaufkrankheiten oder Diabetes sind, wirkt sich Armut nicht nur auf die Seele, sondern auch katastrophal auf den Körper aus (6).
Angus Deaton (7) sagt es so: “…The reality of poverty … is about not having enough to participate fully in society, about families and their children not being able to live decent lives alongside neighbours and friends. … in a world in which general living standards are rising, an absolute poverty line means that those who are poor are drifting further and further below the mainstream of society.”
Armut haben in unserem wohlhabenden Land nur wenige im Fokus. Darum wird leicht übersehen, dass es wohl nicht nur um die „…absolute poverty line…” geht. Sondern für unser Lebensgefühl und unser Wohlbefinden spielt bereits die Befürchtung, wir könnten uns dieser Linie auch nur nähern, eine entscheidende Rolle. Wenn wir unser Einkommen nicht kontrollieren können, wenn nicht sicher ist, dass wir in zwei Jahren diesen Job noch haben, wenn unsere Konten bei unserer Bank, aber auch bei Amazon oder Zalando ins Minus rutschen könnten, und wir das kleine Glück des Shoppens verlören, – dann hört der Spaß auf. Dann beginnt das Unglück.
Armut zuzulassen und nicht aktiv zu bekämpfen, ist aber nicht nur eine Frage von fehlendem Mitgefühl und nicht vorhandener Humanität, sondern wir schaden uns selbst. Denn auch Menschen, die in Armut leben müssen, sind einzigartig und tragen ein hohes Potential an Ressourcen in sich, die unserer Gesellschaft zugutekommen könnten. Wir werden die Folgen zu tragen haben, wenn wir dieses Potential im grauen Schleim der Depression ersticken lassen.
Foto: Manfred Koschabek
Geldmangel trägt also dramatisch zum Unglück bei. Andererseits macht Geld auch nur bedingt glücklich. Lassen Sie sich das mal auf der Zunge zergehen. Denn angesichts des enormen Stellenwerts, der dem Gewinn von Geld heute auf Kosten fast aller anderer Lebensbereiche beigemessen wird, – wir kommen noch darauf, – frage ich mich schon, ob unsere ausschließlich am Geld interessierten Zeitgenossen, noch ganz gesund und nicht vielmehr ziemlich verrückt sind. Ja, ich bin Psychiater und ja, ich weiß, was das umgangssprachliche „verrückt“ im Sinne seelischer Störungen bedeutet. Gerade deshalb weiß ich aber auch, dass selbst ein mit dem Alltag kämpfender Schizophrener, ein sich selbst hoffnungslos überschätzender Maniker oder ein selbstzerstörerischer Depressiver niemals so katastrophal mit ihrem Leben und dem anderer umgehen würden, wie die an Spekulation und Geldvermehrung interessierten, ach so seriösen Banker, Spekulanten und – last not least – Politiker!
de.wikipedia.org: Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika
Leo Bormans: Glück. The World Book of Happiness. Dumont Buchverlag Köln 2012, ISBN 978-3-8321-9357-7
Bruno S. Frey&Alois Stutzer: Happiness and economics. How the economy and institutions affect well-being. Princeton University Press, Princeton (N.J.) 2002, ISBN 0-691-06997-2
Angus Deaton, The Great Escape, Princeton University Press, New Jersey, 2013, ISBN 978-0-691-16562-2
Jürgen Margraf et al: in Vorbereitung (Die Prozentangaben beziehen sich auf die Zahl der Menschen, für die die jeweiligen Antworten zutreffen)
David Stuckler: The Body Economic – Why Austerity Kills, Basic Books, Philadelphia 2013, ISBN 978-0-465-06398-7
In der Mitte dieses Spannungsfeldes, das einerseits durch die Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen und andererseits die Versuche entsteht, möglichst viel Geld aus der Behandlung dieser Einzigartigen herauszupressen, stehen die Ärzte.
Ich will Ihnen nichts vormachen: Im Vergleich zu vielen anderen Lebensbedingungen ist der Arztberuf heute immer noch ziemlich privilegiert und komfortabel. Kein Anlass zum Jaulen. Der Begriff Elend ist unpassend.
Im Nachbarland Polen sind die Ärzte gerade in den Hungerstreik gegangen (1). Fachärzte verdienen im Monat bis 700 Euro, müssen Doppel- und Dreifachschichten machen, einige sind schon gestorben.
Sie meinen, dass Polen eben ein armes Land im Osten sei, nicht vergleichbar mit der BRD? Polen gehört zur EU! Wie übrigens auch Griechenland, wo das Gesundheitssystem ebenfalls ein Elend ist. In unserem Wirtschafts- und Währungssystem, in unserem Nachbarland wird die Medizin für ein vernachlässigbares Übel gehalten, anders kann man das nicht ausdrücken. Das sollte Sie vielleicht nachdenklich machen.
Die Zeichen der Veränderung zum Schlechten sind auch bei uns unübersehbar. Zum sehr viel Schlechteren. Und die Leidtragenden sind diejenigen, die eigentlich im Zentrum des Gesundheitswesens stehen sollten, die Patienten, die nicht nur in Polen oft monatelang auf einen Termin warten.
Absurd erscheint an dieser Situation, dass diese Veränderung zum Schlechten in unserem wohlhabenden Land überhaupt nicht nötig wäre, wenn wir uns klar machen würden, dass nicht alle Lebensbereiche nach den Prinzipien der Gewinnmaximierung funktionieren.
18. Das Image der Mediziner
Copyright: Inger Kristina Wegener
Ärzte haben heute ein schillerndes Image. Da gibt es – immer noch – die Heroen der Medizin, die unter schwierigsten Bedingungen Wunder vollbringen und Leben retten (2), aber es gibt auch die anderen, die bei großen Skandalen vorverurteilt werden, lange, bevor irgendein Gericht Recht gesprochen hat.
Ist der Wandel der Medizin aus einem humanitären in ein finanzielles Unternehmen auch den Medizinern zuzuschreiben? Warum sollten ausgerechnet Ärzte der Faszination des Geldes seltener erliegen, als der Rest der Menschheit? Und die Gehälter sollen ja auch so ansehnlich sein, dass sie für Sozialneid eine Menge Platz lassen.
Wenn man die ärztlichen Einkommen auf die lange und nicht einfache Ausbildung bezieht, relativieren sich solche Fragen ziemlich:
Schon während der Schulzeit müssen Sie in den letzten 2 Schuljahren Spitzenleistungen vollbringen, sonst haben Sie beim Numerus clausus keine Chance.
Dann folgt ein ziemlich verschultes Studium, ohne viel Spielraum für anderes, 6 Jahre, am Schluss ein Examen, für das Sie durchaus pauken müssen.
Um Facharzt zu werden, und alles andere macht keinen Sinn, müssen Sie ca. 6 Jahre an einer Klinik arbeiten, mit viel Verantwortung und jeder Menge Nachtdiensten, bis Sie sich mit ca. 30 wieder prüfen lassen müssen.
Und für die Spezialisierung einschließlich Habilitation und Chefarztbefähigung brauchen Sie dann nochmals einige Jahre. Letzteres ist unverzichtbar, denn moderne Medizin beruht auf Spezialisierung.
Menschen, die Ärztinnen und Ärzte werden wollen, nehmen also lange Ausbildungszeiten und damit lange Abhängigkeiten in Kauf. Bis vor einigen Jahren störte das nicht, weil am Ende der Plackerei nicht nur ein sehr akzeptables Gehalt, sondern auch die Chance auf eine Leitungsfunktion stand, in der man Verantwortung ausüben und Medizin gestalten konnte.
In den letzten Jahren scheint sich auf dem Weg zwischen Staatsexamen und Chefarzt aber Gravierendes zu ändern: Die Neigung, Verantwortung zu übernehmen, wird immer weniger. Ein Kollege erzählte mir, dass in seiner Klinik die Fachärzte kaum noch Interesse an einer Chefarztposition hätten. Wissenschaftlich arbeiten wollten sowieso nur noch die ganz idealistischen, die von den anderen oft als Freaks abgetan würden. Er habe den Eindruck, dass seine Mannschaft sehr genau beobachte, wie es heute an der Spitze von Abteilungen zugehe. Das wollten sich die meisten nicht geben. Nachvollziehbar.
In meinem nicht-operativen Fach bestand ein neu einzustellender Kollege darauf, zu Beginn seiner Facharztzeit statt 100% nur 70% zu arbeiten. Die Stelle bekam er natürlich, denn Ärzte sind kostbar. Meinem vorsichtigen Einwand, dass die 70% mit der Karriere womöglich schwer zu vereinbaren sein würden, begegnete er mit dem sehr klaren Statement, an einer Karriere zum Ober- oder Chefarzt sei er nicht interessiert.
Der Herzchirurg Ingo Kaczmarek, der eine leitende Funktion an der LMU München innehatte, warf unter anderem wegen der Unerträglichkeiten des Anreizsystems das Handtuch, verließ eine angesehene akademische Position mit Zukunftsperspektiven, um Landarzt in der Schweiz zu werden (3)!
Warum studieren junge, begabte Menschen dann noch Medizin?
Copyright: Inger Kristina Wegener
Die Einstiegszahl in das Medizinstudium ist seit langem unverändert. Offenbar faszinieren die Mischung aus Heilen und Naturwissenschaften, das Interesse am Menschen und die Aussicht auf einen krisensicheren Job immer noch viele Einserabiturienten. Ins Grübeln kommen die KollegInnen offensichtlich nach dem Studium.
Was verdienen Ärzte?
Beim Oberarzt für Chirurgie, im Alter von 42 Jahren, einer wöchentlichen Arbeitszeit von 70.0 Stunden beträgt das Gehalt 117.000,00 € brutto pro Jahr. Ein Assistenzarzt bekommt ein Drittel weniger (4). Ohne Zweifel ordentlich, aber nicht exorbitant. Das Problem bei Gehältern dieser Größenordnung liegt woanders: sie sind eine Versuchung für die Finanzverwalter, Stellen nicht zu besetzen. Zehn nicht besetzte Arztstellen ergäben zwischen 600.000 € und über einer Million Euro Gewinn, sehr vorsichtig gerechnet. Dafür kann man doch schon mal einen Ärztemangel am eigenen Haus tolerieren. Man kann behaupten, es gäbe keine geeigneten Bewerber und eine Klinik mit Minderbesetzung betreiben. Das funktioniert ziemlich reibungslos.
Aber wenn Sie als Krankenhausträger auf diese Weise Geld aus dem Medizinbetrieb herausziehen, weil Sie damit lieber an der Börse spekulieren, Schulden bezahlen, investieren, oder Ihr Ansehen bei den Politikern vermehren, vermindern sie die medizinische Kernzeit für die noch vorhandenen Ärzte. Damit meine ich die Zeit für die eigentlichen medizinischen Aufgaben, ohne Dokumentation, ohne Budgetkonferenzen, die Zeit mit dem Patienten.
Das hat weitreichende Konsequenzen:
Zum einen kommen die Ärzte unter Zeitdruck, wenn sie das tun, was die eigentliche ärztliche Tätigkeit ausmacht, nämlich die besondere Situation eines kranken Menschen, die Einzigartigkeit eben dieses Patienten herauszufinden und individuelle Behandlungswege zu finden. Das erhöht den Stress auch für versierte Spezialisten; denn sie müssen die von ihnen erwarteten Ergebnisse in immer kürzerer Zeit erbringen. Wer das bezweifelt, soll sich doch mal als Kassenpatient in eine der von Großkonzernen, Asklepios, Helios, etc. betriebenen Kliniken einweisen lassen.
Zum anderen sinkt ihre Klinik in der Attraktivität für stellensuchende Mediziner; dann können die Stellen auch dann nicht mehr besetzt werden, wenn es nötig wäre, um Stationen nicht schließen zu müssen. Unterbesetzung beeinflusst den individuellen Marktwert einer Klinik negativ.
Druck in der alltäglichen Arbeit ist das eine strukturelle Problem der Ärzte. Das andere ist der Verlust eines wesentlichen Ziels medizinischer Karrieren: selbstständig und in eigener Verantwortung das anzuwenden, was Ärzte in den langen Jahren von Studium und Ausbildung gelernt haben. Bei einer internen Befragung von Fachärzten wurde der selbstständigen Arbeit der höchste Wert zugeschrieben, noch vor dem Gehalt. Der Zwang, sich in allen Entscheidungen an den Vorgaben der betriebswirtschaftlichen oder ärztlichen Verwalter auszurichten, bis in die Details der Patientenbehandlung hinein, macht ausgerechnet die Attraktivität zunichte, die klinische Leitungspositionen einmal hatten.
So wird die Arbeit für Mediziner immer unattraktiver, wenn der finanzielle Gewinn des Krankenhauses zum Hauptkriterium medizinischer Tätigkeit wird. Diejenigen, die eine Wahl haben, gehen und überlassen das Feld weniger qualifizierten Kollegen, die trotzdem dem gleichen Druck standhalten müssen. In dieser Situation liegt leider nicht nur der Hund begraben.
Sie mögen sich jetzt fragen, ob es für die medizinische Versorgung so ein Drama ist, wenn es bald kaum noch unabhängige, engagierte Chefärzte gibt? Medizin können doch viele. Die Perspektive ist ziemlich einfach: Das Niveau wird sinken, denn diese Personen verdienten in der Vergangenheit ja nicht nur ordentlich, sondern gaben die Standards in der Forschung und der Ausbildung der jüngeren Kollegen vor. Ohne diese Vorgaben wird die Medizin eben schlechter werden. Wen trifft das? Genau!
19. Des Dramas zweiter Teil: Die Medizin der niedergelassenen Ärzte
Die ambulante medizinische Versorgung der Bevölkerung wird von den niedergelassenen Ärzten gemacht. Wenn Sie als Mediziner in erster Linie mit Patienten arbeiten wollten und sich weniger für Wissenschaft oder Hochschulkarriere interessierten, war die Niederlassung der Königsweg. Viel zu tun, keine geregelten Zeiten, aber eigenständiges Arbeiten, auf die Dauer ein solides Einkommen der gehobenen Klasse, ein meist gutes Verhältnis zu den Patienten, die wussten, dass ihnen auch zu unbequemen Zeiten geholfen wurde. Diese Ärzte machten ja auch noch Hausbesuche. – wenn ich das schreibe, klingt es wie eine Sage aus längst vergangenen Zeiten!
Eine Voraussetzung war, dass Sie in der Assistenzarztzeit über die reichlich vorhandenen Dienste und Überstunden genügend Geld verdient hatten, um eine vernünftige Grundlage für einen Praxiskredit zu haben. Das geht heute nur noch in den Fällen, in denen die Eltern einem viel Geld mitgeben, denn der im Arbeitszeitgesetz vorgeschriebene Freizeitausgleich verhindert bezahlte Überstunden weitgehend.
Die andere, noch wichtigere Voraussetzung war, dass Sie sich soweit auf Ihr Einkommen verlassen konnten, dass ein Kredit nicht zum Glückspiel wurde. Notfalls konnten niedergelassene Ärzte, wie alle Selbstständigen, auch mal mehr arbeiten, wenn es mit der Rückzahlung des Kredits eng war. Das geht heute nicht mehr, denn die Budgets sind gedeckelt, was bedeutet, dass niedergelassene Ärzte ihr Einkommen nicht mehr steigern können, auch wenn sie mehr arbeiten. Diese Einschränkung der Verdienstmöglichkeiten macht jeden Kredit riskant. Ärzte tragen mit dem Betrieb ihrer Praxen und den Beschäftigungsverhältnissen ihrer Mitarbeiter das volle Risiko aller Selbstständigen, haben aber keine Möglichkeit, auf Krisen zu reagieren. Außerdem hat sich das Gehaltsgefüge geändert: Da die meisten Ärzte von der Kassenmedizin nicht leben können – dazu kommen wir gleich! – , brauchen sie eine Patientenanteil von ca. 20% privat Versicherten. Doch diese Zukunft ist ungewiss, denn wenn Sie die Verlautbarungen der sogenannten Gesundheitspolitiker zur Kenntnis nehmen, hören Sie ständig, dass die privaten Krankenversicherungen abgeschafft werden sollen.
Kurz: Der Königsweg ist nicht mehr so richtig königlich.
Copyright: Inger Kristina Wegener
Das ließe sich wahrscheinlich noch verschmerzen. Aber der negative Clou der ambulanten Medizin ist ein völlig absurder Anachronismus: Das vor Jahren in DDR und Sowjetunion der Ineffizienz überführte Modell der Planwirtschaft wird in unserem kapitalistischen Wirtschaftssystem auf die Spitze getrieben. Anders ausgedrückt: Für alle ambulanten medizinischen Leistungen darf nur eine definierte Gesamtsumme, das Budget, ausgegeben werden. Also werden Zahl und Bezahlung der Leistungen = Behandlungen dem Plansoll angepasst.
Falls Sie jetzt glauben, dass Sie solche Spezialitäten nicht zu interessieren brauchen, ist Ihnen bis jetzt erfreulicher Weise entgangen, dass sie mindestens zwei Folgen dieses kranken Systems am eigenen Leib erleben, wenn Sie einen Arzt brauchen:
Stellen Sie sich vor: Sie leiden seit zwei Wochen unter Angstzuständen, haben keinen Spaß mehr am Leben, schlafen tun Sie schon lange schlecht und ab und zu kommt Ihnen der Gedanke, Schluss zu machen. Auch wenn es sich scheußlich anfühlt, etwas Besonderes ist das nicht. 20 bis 40 % der in unserer Gesellschaft lebenden Menschen haben solche Phasen mindestens einmal in ihrem Leben. Die Medizin, in diesem konkreten Fall die Psychiatrie, könnte solche Zustände gut behandeln. Wenn es dafür denn genügend Geld gäbe. Die gesamte ambulante Medizin arbeitet mit geringen Ausnahmen im Bereich der gesetzlichen Krankenkassen mit dem sogenannten Quartalsbudget: eine Summe für alles, was an Diagnostik und Behandlung in drei Monaten gemacht wird. Sieht man davon ab, dass, wie erwähnt, fixe Budgets in kapitalistischen Systemen, in denen es um Angebot und Nachfrage gehen sollte, völlig anachronistisch sind, könnte man mit einem vernünftigen Budget vielleicht noch etwas machen.
Aber was bekommt ein Arzt nun für die Betreuung eines Patienten im Quartal? Hier erlebt die Kuriosität einen weiteren Höhepunkt, denn das System ist vollkommen intransparent! Selbst die Ärzte, die in diesem System Ihren Lebensunterhalt verdienen, kennen die genauen Zahlen nicht, können zum Beispiel nicht vergleichen, was ein Kollege in Niedersachsen und einer in Schleswig-Holstein verdient, geschweige denn, wie sich ein Psychiater im Vergleich zum Kardiologen steht! Das Wenige, was man kennt ist, vorsichtig gesagt, erstaunlich: So sollen die Psychiater in Schleswig-Holstein zur Zeit im Quartal, das heißt in 3 Monaten, für die Betreuung eines Patienten 25€ bekommen (5).
Copyright: Inger Kristina Wegener
War Psychiatrie nicht mal das, was man „sprechende Medizin“ nannte? Der oben beschriebene depressive Patient, der unter seinen Angstzuständen sehr leidet – haben Sie schon mal Angstzustände gehabt? – und der ja vielleicht auch selbstmordgefährdet sein könnte, wäre ja mit einem oder zwei Terminen im Quartal überhaupt nicht sinnvoll zu behandeln! Er sollte in den ersten drei bis vier Wochen besser wöchentlich kommen, dann einmal alle zwei bis drei Wochen und schließlich einmal im Monat. So kommen ohne weiteres fünf oder mehr Termine zu Stande.
Fünf Termine für 25 €, wenn der erste Termin ungünstig, das heißt am Beginn des Quartals liegt. Wenn sich die Behandlung über zwei Quartale erstreckt, sind es 50 € – vor Steuern. Und jetzt kommt das ganz persönliche Ethos des jeweiligen Arztes ins Spiel: Fragen Sie sich doch selbst, wie lange Sie – in Minuten und Stunden – nach mehr als 15 Jahren Ausbildung und vielleicht 10 Jahren Berufserfahrung für 5 € vor Steuern arbeiten wollen. Traurig? Ziemlich traurig.
Nur noch ein Beispiel: Bei den Dermatologen, die – bei allem Respekt – weniger reden und schneller hinschauen müssen, liegt der Quartalsbetrag in Hamburg bei 14 €. Vor 25 Jahren lag er bei 80 DM. Sie kommen ins Grübeln? Nicht nur Sie. Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum Sie als Kassenpatient so lange warten müssen, bis Sie einen Termin bekommen. Wenn ein Psychiater zu viele 5€-Patienten pro Quartal behandelt, kann er wirtschaftlich nicht überleben. Das können Sie sich ja ohne Weiteres selbst ausrechnen. Warten zu müssen, ist bei dem geschilderten Patienten mit Angstzuständen und Selbstmordgefährdung natürlich medizinisch völlig widersinnig.
Aber da gibt es ja noch Privatpatienten. Die bekommen ihren Termin offensichtlich schneller. Das erscheint Ihnen nicht fair? Ist es auch nicht fair. Aber schauen Sie sich die Zahlen selbst an: Wenn der geschilderte depressive Patient privat versichert wäre, bekäme sein Psychiater für den ersten Termin zwischen 30 und und 50, bei komplizierten Fällen sogar 100 Euro, sofern der Termin länger als 20 Minuten dauert, für die Folgetermine zwischen 33 und 50, je nachdem, wie kompliziert die Behandlungssituation ist. Das muss natürlich auch noch versteuert werden, aber jetzt kommen wir in einen Bereich, in dem sich die Arbeit zu lohnen beginnt.
Auf die Spitze getrieben, könnte ein Arzt um so mehr Kassenpatienten behandeln, je mehr Private er behandelt. Macht man sich das klar, so wird offensichtlich, dass die Forderung der Politiker nach Abschaffung dieses Zwei-Klassen-Systems die pure Heuchelei ist, denn wenn niedergelassene Ärzte keine Privatpatienten mehr behandeln könnten, müssten die meisten von ihnen ziemlich schnell Insolvenz anmelden.
Nur dass es einmal ausgesprochen wurde: Für das geschilderte Fiasko sind direkt zuständig die Krankenkassen und die Kassenärztliche Vereinigung. Wenn Sie bei einer der beiden Stellen anrufen, um sich z.B. über die Wartezeiten zu beschweren, werden Sie hören, dass das alles im Ermessen der niedergelassenen Ärzte liegt. Klar, die verwalten den Mangel. Aber machen wir uns nichts vor: der Zustand des Systems liegt in der Verantwortung der parteiübergreifenden Politik, die das Geld anders ausgeben will.
Interessanter Weise werden in öffentlichen Diskussionen das ambulante und das stationäre System penibel auseinander gehalten. Aber – fließen nicht Ihre Kassenbeiträge in beide Systeme? Und hat es wirklich nichts miteinander zu tun, dass in dem einen System stattliche Gewinne eingefahren werden, während im anderen infolge der kollabierenden Budgets keine akzeptable Behandlung mehr möglich ist? Wenn Sie Pech haben, werden Sie Opfer beider Systeme: Nach einer Operation werden Sie schon nach wenigen Tagen entlassen, – „blutig entlassen“ heißt das im Jargon der Assistenzärzte. Manchmal in eine Reha, oft nach Hause. Sollten Sie dann einen ambulanten Kollegen suchen, der Sie weiter versorgen könnte, zum Beispiel ein Rezept für Verbandsmaterial oder Medikamente ausschreibt, dann werden Sie sich wundern, vor allem, wenn sich das Quartal gerade seinem Ende nähert.
Der Mensch hält viel aus. Ihr Glück, Herr Gröhe, Herr Lauterbach, Herr Rösler!
Warum schreibe ich das?
Copyright: Inger Kristina Wegener
Will ich Panik hervorrufen? Will ich Ihnen Angst machen, wenn Sie mal in die Situation kommen, sich behandeln lassen zu müssen, ambulant oder stationär? Natürlich nicht! Diese Geschichte ist nicht neu. Alles, was ich geschrieben habe, konnten Sie in den letzten Jahren mehrfach irgendwo lesen. Aber Sie haben es nicht wahrnehmen wollen. Sie waren ja gerade nicht krank. Und was Ihrer alten Mutter passiert ist, als sie kurz vor ihrem Tod notfallmäßig in die Klinik musste, das war sicher ein blöder Einzelfall. Leider war es das wahrscheinlich nicht.
Ich mache mir wenig Illusionen über die Wirksamkeit eines solchen Blogs. Aber eine winzige Chance gibt es vielleicht doch. Denn diese gruselige Geschichte von der heutigen Medizin muss sich ändern! Was heute in der Medizin passiert, ist dem, was Medizin sein sollte, was sie sein könnte, völlig entgegengesetzt. Und diese Botschaft kann man gar nicht oft genug in die Welt posaunen.
Auch wenn Sie es vielleicht für etwas weit her geholt halten, Medizin ist die Disziplin, die sich mit der Besonderheit, der Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen auseinandersetzen muss, oder sie verliert ihre Grundlage. Heute sind wir kurz davor.
Heute werden an vielen Stellen Patienten schlechter behandelt, als es möglich wäre, weniger auf der technisch-operativen als auf der kommunikativ-zwischenmenschlichen Ebene. Kein Wunder, dass Gesundheitspolitiker und Klinikchefs von Robotern und Digitalisierung fantasieren. „Die digitale Gesundheitsakte ist Merkels nächster Schritt.“(6) Hat jemand der Bundeskanzlerin erzählt, dass digitale Systeme bei aller Fortschrittlichkeit das Gespräch zwischen Mensch und Mensch nicht ersetzen können?
Heute ist die Mehrzahl der hoch qualifizierten und auch irgendwann mal hoch motivierten Ärzte frustriert und verärgert, wenn sie nicht gleich eine Burnout-Symptomatik entwickeln. (Burnout bei Ärzten können Sie googeln.) Denn das ist der Grundmechanismus des Burnout, hoch motivierte Menschen immer weiter unter Druck zu setzen, bis sie nicht mehr können. Persönliche Berichte aus den Op´s der großen Klinika, wo fast rund um die Uhr operiert wird, weil es den Gewinn steigert, haben immer auch die katastrophalen Umgangsformen und die schlechte Stimmung zum Thema.
Heute sind viele Mediziner auf dem Weg in den Zynismus, arbeiten nur noch nach Vorschrift, weil sie die menschliche Not ihrer Patienten nicht mehr an sich herankommen lassen wollen und können. Andere versuchen die Quadratur des Kreises, „trotzdem“ gute Medizin zu machen, was ihnen, da sie gut sind, oft genug noch gelingt. Aber Spaß macht das niemandem mehr.
Heute fühlen sich die niedergelassenen Kollegen, die eigentlich die Grundstruktur unseres Gesundheitswesens sichern sollen, auf verlorenem Posten.
Wollen wir das? Wollen Sie das? Wir sind doch so ein wohlhabendes Land!
tagesschau.de vom 8.10.2017 05:01: Hungern für bessere Arbeitsbedingungen
Der letzte Schnitt: Bericht über den Leiter des Münchner Herzzentrums Rüdiger Lange. Bericht von Felix Hütten. SZ.de vom 29.9.2017
ZEIT Magazin Mann, Frühjahr – Sommer 2017, S 86: EIN GLÜCK! Der Herzchirurg Ingo Kazmarek fängt noch mal von vorn an.
Zahlen aus gehalt.de
Das ist hinter vorgehaltener Hand erzählt worden, schon einige Monate alt. Mag sein, dass diese Zahl um einige Euro nach oben oder unten zu korrigieren ist.
Kürzlich diskutierte ich mit einem Bauingenieur über die Medizin. Er war völlig fassungslos, dass man mit oft lebensbedrohlich kranken Menschen Gewinn machen wolle.
16. Wie macht man mit Krankheiten Gewinn?
Früher wurden Krankenhäuser für die Tage bezahlt, an denen ein Patient stationär behandelt wurde. Vielleicht wurden manche Patienten länger als unbedingt nötig behandelt, – wobei „nötig“ ja nicht so leicht zu definieren ist. Sie als Patient würde es wahrscheinlich nicht so sehr stören, wenn Sie so lange stationär bleiben könnten, bis Sie sich wieder fit fühlen, aber Staat und Versicherungen, die sogenannten Leistungsträger im Gesundheitssystem behaupten, dass das zu viel Geld koste. Übrigens, – Patienten werden zu diesem und anderen Themen im Gesundheitswesen grundsätzlich nicht gefragt, was die Verantwortlichen anscheinend für selbstverständlich halten.
Foto: Manfred Koschabek
Um die Krankenhauskosten besser in den Griff zu bekommen, wurden die Fallpauschalen (1) eingeführt: Ein Krankenhaus bekommt pro Diagnose und Schweregrad eine definierte Summe. Auf den ersten Blick macht das durchaus Sinn, denn die Behandlung schwerer Krankheiten kostet mehr als die leichter. Der Teufel sitzt im Detail und das ist in diesem Fall die Behandlungsdauer: die wird weder für Diagnose noch für Schweregrad festgelegt und bleibt somit im Ermessen des Krankenhauses. Da sie aber die entstehenden Kosten wesentlich bestimmt, hat sie massiven Einfluss auf den Gewinn des Krankenhauses. Wenn die Behandlung zu lange dauert, übersteigen die Kosten die Pauschale, das Krankenhaus zahlt drauf. Wenn alles wie geschmiert läuft und der Patient schnell entlassen werden kann, macht das Krankenhaus Gewinn.
Sie haben schon richtig gelesen: Es gibt also die Möglichkeit, dass ein Krankenhaus mit Ihrer Krankheit, bzw. mit der Wiederherstellung Ihrer Gesundheit Gewinn macht. Gewinn! Der konkurriert seit Etablierung des DRG-Systems mit der medizinisch optimalen Behandlung, mit der Folge, dass der Einfluss der Mediziner auf die Behandlung immer mehr schwächer wurde. Parallel zur Stärkung des Einflusses von Politikern und Finanzleuten. Sie finden, das sei eine sehr einseitige Betrachtungsweise? Fragen Sie mal Ihre behandelnden Ärzte! Sie müssen ihnen aber Diskretion zusichern!
Vielleicht verstehen Sie jetzt besser, warum die Abläufe Ihrer stationären Behandlung in dieser Klinik so seltsam waren?
Sie wurden entlassen, als Sie sich eigentlich noch gar nicht so fit fühlten, – man hat Sie gar nicht gefragt, sondern Ihnen im besten Fall erzählt, Sie müssten Ihr Bett für einen Notfall frei machen. Wer täte das nicht gerne?
Wahrscheinlich konnten Sie Ihren Operateur vor der Operation nicht sehen, denn der hatte an dem Tag gerade Freizeitausgleich, und wenn das direkte Gespräch zwischen Ihnen beiden Voraussetzung für die Operation gewesen wäre – so wie es sich früher mal gehört hat – hätte Ihre Behandlung einen Tag länger gedauert. Ihnen wäre das lieber gewesen? Schon, aber der Finanzmensch des Krankenhauses könnte Ihnen ausrechnen, dass das Krankenhaus weniger an Ihnen verdienen würde. Ihr Problem? Ja! Sie werden von jemandem operiert, den Sie oft gar nicht kennen können. Vertrauen? Wie soll das funktionieren? Dass damit eine der wesentlichen Grundlagen für die Arzt-Patienten-Beziehung flöten geht, interessiert im modernen Gesundheitssystem offenbar niemanden mehr.
Was Sie nicht merken: Diese Situation ist auch für den operierenden Arzt alles andere als komfortabel, denn er wird im Operationssaal mit Menschen konfrontiert, die er selber nicht untersucht hat und bei denen er unter Umständen zu einer anderen Entscheidung bezüglich der Operation gekommen wäre. In der gewinnorientierten Medizin fühlen sich Patienten und Ärzte gleichermaßen schlecht.
Natürlich war die Pflegebesetzung auf der Intensivstation grenzwertig. Sie haben das an den gestressten Schwestern und Pflegern gemerkt. Zum Reden hatte kaum noch jemand Zeit.
Von den Sparmaßnahmen bei der Sauberkeit – die Reinigung wird wegen des gewaltigen Einsparungspotentials schon seit langem in Fremdfirmen „ausgelagert“, die ihren MitarbeiterInnen einen Hungerlohn zahlen – bekamen Sie gar nichts mit, oder erst, nachdem Sie einen dieser multiresistenten Keime eingefangen hatten. Denn Sauberkeit ist die Grundlage der Hygiene.
Inhaber der „Schloss-Straße“ im Krankenhausmonopoly und Spitzenreiter im Wettbewerb der Umwandlung von Medizin in Finanzbetriebe ist wohl der Hauptkrankenhausbetreiber in der schmucken Hansestadt Hamburg, die es mit Werten sonst durchaus großzügig meint, – siehe Elbphilharmonie!
2005 hat man die ehemals städtischen und zugegebenermaßen ziemlich maroden Kliniken an Asklepios-Konzern verkauft, dessen Umgang mit Patienten und Mitarbeitern selbst die sicher einiges gewohnten SPIEGEL-Journalisten zum Staunen brachte (2): Der Druck auf den Intensivstationen und im OP ist enorm, mit Würde hat der Umgang gerade auch mit sterbenden Menschen nichts mehr zu tun.
„ … Interne Dokumente zeichnen das Bild eines Konzerns, der Medizin managt wie eine Wurstwarenfabrik. Dahinter steht ein großes Ziel, ein finanzielles: In diesem Jahr sollen die Kliniken in Hamburg eine Gewinnmarge vor Steuern und Abschreibungen von fast zwölf Prozent schaffen – in einem System, das große Gewinne eigentlich nicht vorsieht…“
Diese Information war und ist frei zugänglich, der Spiegel hat schließlich eine beachtliche Auflage von über 700.000. Niemand hat widersprochen, keine Gegendarstellung, – es ist also wahr! Und trotzdem scheint sich in dieser reichen und stolzen Stadt der SUVs, der Villen und der Reeder niemand daran zu stoßen.
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Welche Frage drängt sich Ihnen auf? Richtig: Wo bleibt die Kontrolle? Wer kontrolliert, ob ein Krankenhaus die Bürger der Stadt so versorgt, wie es der freien Hansestadt angemessen wäre? Von den ehemals städtischen Kliniken in Hamburg, deren Verkauf an den Asklepios-Konzern 2004 vom damals CDU-dominierten Hamburger Senat gegen einen Volksentscheid durchgesetzt wurde, hält die Stadt Hamburg immer noch 21%. Damit könnte sie gerade in Qualitätsfragen immer noch gut mitreden. Doch die Journalisten des SPIEGEL fanden in dem Vertrag eine interessante Formulierung: Asklepios kann die jeweiligen Vertreter der Stadt austauschen, wenn diese sich nicht konform zu den Interessen des Konzerns verhalten. Was? Ja! Damit ist Kontrolle unmöglich geworden! Abgesegnet wurden diese Verträge vom damaligen CDU-Oberbürgermeister – pardon!, die Hamburger sagen Ersten Bürgermeister – Ole von Beust, der auch noch für das finanzielle Debakel der Elbphilharmonie, den Verkauf stadteigener Immobilien, die dann wieder teuer angemietet werden und für den Abenteuerkurs der HSH-Nordbank zuständig war.
Foto: Manfred Koschabek
In räumlicher Nähe liegt Schleswig-Holstein – und sein Universitätsklinikum, ein Beispiel der vielen, von der öffentlichen Hand gequälten Krankenhäuser: Hier entsteht der finanzielle Druck aus der Geldnot der immer mal wieder wechselnden Landesregierungen. Ein Ministerpräsident mit Größenideen hatte dem kleinen Land ein zweites Universitätsklinikum geschenkt, ohne sich darum zu scheren, wie es zu bezahlen wäre. Und nun machen die Politiker aller Parteien seit Jahren, was sie am besten können: Sie zwingen die Universitätskliniken zum Sparen. Was die Qualität der konkreten medizinischen Arbeit betrifft, gehen die jeweiligen Minister von der Prämisse aus, wo Universitätsklinikum draufsteht, da wird schon universitäre Spitzenmedizin drin sein. Sie übersehen geflissentlich, dass letztere mit so einem Spardruck längst nicht mehr vereinbar ist. Weitgehend in Ruhe gelassen werden nur die Fächer, die einen hohen Gewinn abwerfen. Wenn man deren Personal kürzt, könnte das ja negative finanzielle Konsequenzen haben.
Offensichtlich hat man sich den Konzern, der Hamburg so „erfolgreich“ ist, zum Vorbild genommen: „… Asklepios ist auch ein Sinnbild für das Versagen der Gesundheitspolitik: Sie zwingt Krankenhäuser, Profit zu machen, weil sich die Politik um ihren Teil der Finanzierung einfach drückt. Medizin ohne wirtschaftlichen Druck gibt es deshalb in keinem Krankenhaus mehr, egal ob öffentlich, gemeinnützig oder Teil eines privaten Konzerns. In fast allen privaten Klinikketten, ob bei Helios, Sana oder Schön, werden Gewinnmargen um die zwölf Prozent und mehr verlangt, herrschen strenges Kostenregiment und hoher Druck auf Ärzte und Pfleger. Die Verwerfungen eines durch und durch ökonomisierten Gesundheitswesens, es gibt sie nicht nur bei Asklepios. (3)“….
… sondern in der ganzen Republik. Gerne im Osten, wo finanzielle Glückritter die offensichtlich noch immer nicht so richtig eingeübten Regelungen von Personalrecht und Arbeitszeit für Krankenhausexperimente auf dem Rücken von Personal und Patienten zurechtbiegen, aber auch sonst überall: Druck auf Mitarbeiter, Ignoranz gegenüber den Patienten. Gelegentliche Ausnahmen vor allem in den reichen Bundesländern Bayern und Baden-Württemberg bestätigen die Regel.
Die Eliminierung von Wertschätzung und Qualität wird in der Regel von Verwaltungschefs oder sogenannten ärztlichen Direktoren umgesetzt. Trotz ihrer oft zur Schau getragenen Begeisterung für diesen traurigen Job muss man sie wohl eher bemitleiden, denn vermutlich hatten auch sie mal andere Jugendträume von guter Medizin.
17. „Führ mich zum Schotter!“ (4)
Das Hauptziel der Medizinwirtschaft ist der Gewinn. Ein grundsätzliches Problem ist dabei die Einstellung vieler Ärzte, Schwestern und Pfleger. Denn die sind anders sozialisiert. Für sie sind die Verantwortung gegenüber den Patienten und die medizinische Exzellenz immer noch wichtigere Inhalte als der schnöde Mammon. Junge Menschen studieren Medizin, um anderen Menschen zu helfen, – dass Krankenhausträger Gewinne machen wollen, haben sie gar nicht im Blick. Es bedarf also erheblicher Anstrengungen, die in der Medizin Tätigen auf den „Kurs zum Schotter“ zu bringen. Das Zauberwort ist „Anreiz“. Den vermitteln clevere Krankenhausleiter auf der Ebene der leitenden Ärzte durch sogenannte „Zielvereinbarungen“, die sich keineswegs auf medizinische Ziele beziehen! Der Begriff bedeutet, dass Chefarzt und oft auch nachgeordnete Ärzte ihr Einkommen steigern können, wenn das finanzielle Ergebnis „ihrer“ Klinik, die längst nicht mehr ihre ist, den Vorgaben der Verwaltungsleitung entspricht, oder sie sogar überschreitet. Im Klartext heißt das, dass in dieser Klinik mehr lukrative Behandlungen gemacht werden. Tatsächlich ist das keine „Kann-Regelung“, sondern der Chefarzt muss! Vielerorts werden in Krankhauskonferenzen die an den Pranger gestellt, die diese Ziele nicht erreicht haben. Das muss einer erst einmal aushalten, Chefarzt hin oder her.
Foto: Manfred Koschabek
Die Bundesärztekammer, ein sicher eher konservatives und nicht anti-kapitalistisches Gremium, hat sich von dieser Praxis schon lange ausdrücklich distanziert (5): Die entsprechenden Punkte eines Modellkatalogs zu Zielvereinbarungen sind fast ausnahmslos mit dem Kommentar „abzulehnen“ versehen. Aber diese Ablehnung wird weitgehend ignoriert.
Schon 2013 hat der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie und Direktor der Abteilung für Allgemeine, Viszeral- und Transplantationschirurgie der Ludwig-Maximilians-Universität, Prof. Karl Walter Jauch in einem Interview zu dieser Thematik Stellung bezogen:
„In der Chirurgie geht der Konkurrenzdruck ganz klar zu Lasten der Patienten. Viele werden unnötigerweise operiert. Außerdem sind die Ergebnisse schlechter. … In einzelnen Kliniken gibt es schon EDV-Programme auf den Stationen, die für jeden Patienten abbilden, wann die Fallpauschale verbraucht ist … Jeder Assistenzarzt weiß dann: Jetzt wird es Zeit, den Patienten zu entlassen.“ (6)
Zum Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie wird man nicht gewählt, weil man ein zögerlicher Feingeist ist. Chirurgen sind Menschen der Tat und der klaren Ansage. Die hat Professor Jauch auch gemacht. Klarer geht es nicht. Geändert hat sich an der Anreizmedizin meistens gar nichts. Das ist ein Phänomen, auf das man immer wieder stößt, wenn es um den finanziellen Gewinn geht: Trotz massiver und erdrückender Gegenargumente wird an einer falschen und gefährlichen, in vielen Fällen menschenverachtenden Praxis festgehalten.
Auch wenn es ums Sterben geht. An schweren Krankheiten zu sterben, ist hart. Für viele Menschen wäre es hilfreich und angstmildernd, auf eine Palliativstation aufgenommen zu werden, weil Ärzte und Pflegepersonal dort auf die Bedürfnisse des Sterbenden eingestellt sind. In einem Interview mit Prof. Sven Gottschling, einem Palliativmediziner, stoße ich auf seine Äußerung zur konkreten Situation der Palliativmedizin (7):
„Sehr viele Patienten sterben, während sie auf einen Platz auf einer Palliativstation warten … bei Kindern sind wir bundesweit sogar nur bei 20% Flächenabdeckung. Es ist gruselig, wie manche Krankenkassenverwaltungen das verschleppen. … es ist schwierig, Krankenhausträger dazu zu begeistern, eine Palliativstation aufzubauen. Die investieren lieber in Gelenkersatz und Wirbelsäulenchirurgie, denn da kommen auf jeden Fall schwarze Zahlen raus. Palliativmedizin ist teuer.“
DRG´s: Diagnosis related groups = Diagnosebezogene Fallgruppen
SPIEGEL online, Ausgabe 51/2016 vom 16. 12. 2016: Der kranke Konzern.
SPIEGEL online, Ausgabe 51/2016, vom 16. 12. 2016
Bundesaerztekammer.de: Bewertung von Zielvereinbarungen in Verträgen mit leitenden Krankenhausärzten durch die gemeinsame Koordinierungsstelle der Bundesärztekammer und des VLK, 12.12. 2013
Zentraler Satz aus dem Film „Jerry Maguire“, Regie Cameron Crowe, wird von Cuba Gooding zu Tom Cruise gesagt …
„Zu Lasten der Patienten“ Chirurgenpräsident Jauch über falsche Anreize. Interview Christina Berndt. SZ Sa/So 5./6. Januar 2013, Nr 4, S. 20
Sven Gottschling: Leben bis zuletzt. Was wir für ein gutes Sterben tun können. Fischer 2016
Nach den offiziellen Verlautbarungen von Krankenhausleitungen und Gesundheitspolitikern liegen viele Missstände der Medizin, unter anderem die fehlende Zeit, meistens daran, dass es nicht genügend Personal gibt.
14. Das Märchen vom Personalmangel (1)
Vernünftiges Gehalt, erträgliche Arbeitsbedingungen und Wertschätzung hängen zusammen, und wenn alles drei stimmt, wird man in jedem Beruf genügend Arbeitskräfte finden. Wenn nichts davon mehr stimmt, wandern die ab, die es sich leisten können, – Pflegekräfte, Ärzte und durchaus auch Chefärzte. Verantwortungsvolle Mitarbeiter sind ja nicht notwendiger Weise blöde.
Foto: Manfred Koschabek
Seit einiger Zeit werden von Krankenhaus,- Kosten- und politischen Verantwortungs-Trägern neuzeitliche Märchen erzählt, wie z.B. das über den plötzlich über unsere Zivilisation hereingebrochenen Pflegekräftemangel.
In Hamburg fand am 17. September 2016 ein „Internationaler Tag der Patientensicherheit“ statt. Veranstalter waren der ASKLEPIOS-Konzern und ein „Wissenschaftliches Institut der Techniker Krankenkasse für Nutzen und Effizienz im Gesundheitswesen“.Eine spannende Kombination! Denn warum tut sich eine Krankenkasse, deren Interesse es doch eigentlich sein müsste, die von ihren Mitgliedern bezahlten Beiträge optimal im Interesse eben dieser Mitglieder auszugeben, mit einem Konzern zusammen, der aus dem Gesundheitswesen im Jahr 2015 einen Nettogewinn von satten 176,8 Mio Euro (Umsatzrendite 5,7) zog. (Kann man googeln! )
Auf diesem Kongress erwähnte die Gesundheitssenatorin der freien Hansestadt, eine Studie, die zeigt, dass 30 Prozent der aufgetretenen Fehler – anscheinend treten im Gesundheitswesen Fehler auf! – durch eine Optimierung der Klinikorganisation, insbesondere dünnen Personaldecke der Pflege vermeidbar gewesen wären.
Der anwesende ASKLEPIOS-Chef, ein Herr Wolfram meinte, Personalvorgaben seine nicht zielführend (!) denn die gewünschten Fachkräfte seien auf dem Markt nicht zu bekommen. Um diese Äußerung richtig zu verstehen, muss man sich klar machen, dass der Konzern so viel Geld im Krankenhausbereich eigentlich nur verdienen kann, indem er frei werdende oder gewordene Stellen, von Ärzten und von Pflegepersonal zeitweise oder ganz nicht besetzt. Und das Geld, das die Krankenkasse für diese Stellen bezahlt, in die Konzern-Tasche steckt.
Er sagte nicht, dass die Arbeitsbelastung wegen der nicht besetzten Stellen für die übrig gebliebenen Mitarbeiter zu hoch sei, das Wort „Belastung“ trifft da wohl ziemlich genau zu. Er sagte auch nicht, dass es genau deswegen die Fachkräfte auf dem Markt nicht gibt: Denn zu diesen Arbeitsbedingungen möchte niemand arbeiten. Sogar der Präsident der Bundesärztekammer hat Ärzte davor gewarnt, bei ASKLEPIOS zu arbeiten. Der steht nun nicht gerade im Verdacht, marxistisch-leninistischem Gedankengut anzuhängen.
Das Rezept des mysteriösen Schwunds an Pflegekräften geht konkret so: zuerst reduziert man Stellen. Warum? Weil man Geld einsparen kann, wenn man frei werdende Stellen nicht wieder oder nicht sofort besetzt. Da werden beträchtliche Summen frei. Der Preis dafür ist hoch: die Zustände z.B. auf Intensivstationen aber auch im ganz normalen Krankenhausbetrieb werden wegen des selbst erzeugten Personalmangels so unerträglich, dass man auch dann keine guten Schwestern und Pfleger mehr bekommt, wenn man sie – volle Kraft zurück! – zur Erhaltung des Betriebes dringend sucht.
Tatsächlich soll das Märchen vom Pflegekräftemangel davon ablenken, dass die Verantwortlichen in Krankenhauskonzernen, Versicherungen und Politik diesen Mangel ja eigentlich gar nicht ändern wollen! Das haben Sie schon richtig gelesen: in ihrer Einschätzung über die benötigte Personalstärke sind die Führungskräfte der großen Klinika meist völlig gespalten. Die medizinischen Fachleute setzen den Personalbedarf höher an, als die Finanzspezialisten. Letztere setzen sich durch, denn sie sind nur am Geld interessiert. Für sie gilt: mehr Personal kostet mehr Geld. Das eingesparte Geld kann man aus dem System ziehen und anderswo „arbeiten“ lassen. Zustände und Befindlichkeit des noch nicht abgewanderten Personals sind entsprechend.
15. Warum will eine/r überhaupt pflegen?
Ganz klar: Weil pflegen stolz macht. Aha?
Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Elisabeth Scharfenberg hatte unter 4500 Schwestern und Pflegern eine Umfrage gemacht, bei der herauskam, dass 85% stolz auf ihre Arbeit sind (2). Sie trügen hohe Verantwortung und würden gebraucht. Warum gibt es dann nicht mehr Menschen, die pflegen wollen? Den Mangel versuchen ASKLEPIOS – Hamburg und auch das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein gerade mit aufwendigen Werbeaktionen zu bekämpfen.
In der eben erwähnten Umfrage findet sich eine Antwort: Zwei Drittel der Schwestern und Pfleger sind mit ihrer Arbeitssituation unzufrieden, zu hoher Zeitdruck, zu wenig Personal. Man kommt nicht zu dem, worum es einem geht.
Worum geht es einem denn? Woher kommt die Motivation für pflegerische Tätigkeiten?
Ein Vorschlag: „Die eigentliche Leistung, die wir schätzen sollten, wenn es um unsere Karriere geht, ist das Erschaffen eines Arbeitslebens, das unsere ureigenen inneren Werte reflektiert.“ (3)
Wenn Sie einmal als Krankenschwester oder –pfleger arbeiten wollten, war es wohl eher nicht Ihr „ureigener innerer Wert“, unterbezahlt auf miserabel besetzten Stationen in den Burnout zu trudeln und sich jeden Tag zu fragen, ob Sie diese Tätigkeit noch mit Ihrem Berufsethos verbinden können.
Was hat Sie denn getrieben, diesen Beruf zu ergreifen? Vielleicht Ihre besondere Fähigkeit, mit Menschen in schwierigen Lebenssituationen zu kommunizieren? Ihre Gabe, Menschen in Lebenslagen zu unterstützen, in denen sie hilflos sind, weil sie aus einer lebensbedrohlichen Krankheit durch medizinische Maßnahmen gerettet wurden, die eine Intensivbehandlung nötig machen? Ihre Einschätzung, dass es eine gute Tätigkeit ist, Menschen in dieser verwundbaren Lage beizustehen und dass gerade Sie so etwas gut können? Vielleicht haben Sie entdeckt, dass Sie im Umgang mit kranken Menschen erfinderisch sind, sich auf ihre besondere Situation einstellen und ihnen dadurch das Leben wesentlich erleichtern können.
Copyright: Inger Kristina Wegener
Vielleicht können gerade Sie liebevoll und entspannt auch mit verwirrten Alten umgehen, weil Ihnen bewusst ist, dass die eben nicht immer dement waren, sondern in ihrem aktiven Leben eindrucksvolle und natürlich einzigartige Persönlichkeiten. Möglicherweise hatten Sie den – durchaus zutreffenden – Eindruck, dass Sie damit etwas Gutes, Richtiges tun. Das wäre es, Ihr ganz persönliches, einzigartiges, unverwechselbares Selbst!
Lassen Sie es wachsen, denn davon haben alle etwas: Sie, die kranken Menschen, mit denen Sie sich befassen, und unsere ganze Gesellschaft, weil diese werterfüllte Art, Ihren Beruf zu gestalten aller Wahrscheinlichkeit nach mit weniger Krankheitstagen, geringerem Schlafmittelverbrauch, geringerem Alkoholmissbrauch und last not least mit weniger Frühberentungen einhergehen wird.
Durch Sie, durch Ihren ganz persönlichen Stil, bekommt unsere Gesellschaft etwas zurück, – gleichsam als Belohnung, dass dem Einzelnen Freiraum und Möglichkeiten zur Entfaltung gegeben wurden. (4)
Wie geht es Ihnen bei der Lektüre dieser Zeilen? Kommen sie Ihnen vollkommen abgehoben idealistisch vor? Oder ironisch? Vielleicht arbeiten Sie selbst im Pflegebereich und haben immer wieder erlebt, wie wenig wertschätzend von Kostenträgern und Heimbetreibern mit Ihrem Berufsstand umgegangen wird. (5)
Foto: Manfred Koschabek
Mein Text ist ernst gemeint. Ich bin überzeugt, dass Menschen mit dieser Einstellung auch heute ihre Erfüllung in der Pflege finden können und dass diese Gesellschaft sie dringend braucht. Und eben diese Gesellschaft muss begreifen, dass sie solche Menschen auch angemessen bezahlen muss. Gute Pflege kann dort gemacht werden, wo für genügend gut bezahltes Personal gesorgt wird.
Wir stehen am Scheideweg: Entweder besinnen wir uns auf den Wert jeder einzelnen Person, der Pflegenden und der Gepflegten, oder Pflege wird für alle Beteiligten das Grauen schlechthin. Ein Grauen, an dem einige Wenige sehr gut verdienen. (6)
Siehe auch „Die Kopfgeldjäger der Charité“ von Astrid Viciano, SZ Nr. 99, Sa/So/Mo 29./30. April/1. Mai, 2017 S 37.
elisabeth-scharfenberg.de: Was beschäftigt Pflegekräfte?
Daniel Schreiber, Nüchtern, Suhrkamp Taschenbuch 4671, 2016, ISBN 978-3-518-46671-1
Das ist ein Gedanke den Angus Deaton am Schluss seines Buches diskutiert: Angus Deaton, The Great Escape, Princeton University Press, New Jersey, 2013, ISBN 978-0-691-16562-2
Armin Rieger: Der Pflegeaufstand. Ludwig Verlag München, 2017, ISBN: 978-3-453-28085-4
Wenn ein Mensch krank wird, gerät seine Integrität in Gefahr.
12. Wann ist Medizin gut?
Wenn Sie von Einser-Abiturienten betrieben wird? Wenn Ärzte auf Top-Listen geführt werden? Oder wenn ein Arzt ganz einfach sein Handwerk versteht? Wenn Pflegepersonal und Ärzte empathisch auf jeden Patienten eingehen können? Wenn die Mediziner Intuition und Kreativität aufbringen, um auch seltene Probleme zu klären? Wenn ein Krankenhaus viel Gewinn erwirtschaftet? Ein ziemliches Durcheinander! Wie findet man Klarheit?
Ich mache hier mal ein Statement, das Sie auf den ersten Blick vielleicht überraschen wird: Sinnvolle Antworten auf die Frage nach der Güte der Medizin können natürlich nicht Ärztefunktionäre, Professoren, Krankenhausträger oder Krankenkassen geben, sondern nur die Betroffenen. Also zum Beispiel Sie, wenn Sie zum Patienten werden. Es kommt aber sehr selten vor, dass sich Patienten vernehmbar zur Güte Ihrer Behandlung durch Ärzte oder in Krankenhäusern äußern, – sieht man von irgendwelchen anonymen und damit automatisch zweifelhaften Internetportalen ab. Trauen Sie sich nicht, weil sie sich von der gewaltigen Kompetenz eingeschüchtert fühlen, die im Medizinsystem vor sich hinwabert?
Medizin ist dann gut, wenn der einzelne Mensch und seine Bedürfnisse im Zentrum der Bemühungen von Schwestern, Pflegern, Ärztinnen und Ärzten steht.
Wenn Sie krank sind, so krank, dass „es“ nicht mehr von selbst weg geht, dann suchen Sie einen Arzt auf, um eine Erklärung Ihrer Symptome, Hilfe, Linderung, Heilung zu bekommen. Der kann Ihnen aber nur richtig helfen, wenn Sie ihn „in sich rein lassen“. Wörtlich gilt das für die Chirurgen, aber auch alle anderen medizinischen Fächer können nur dann ihre volle Wirksamkeit entfalten, wenn Sie einer Ärztin, einem Arzt gestatten, Sie in ihrer ganz persönlichen, seelischen und körperlichen Individualität zu erfassen. Dabei werden Grenzen der Unversehrtheit überschritten, die im sonstigen zwischenmenschlichen Leben absolut geschützt sind. Das gilt nicht nur für den Gynäkologen, der eine Frau bei der Untersuchung anfassen darf, wie sonst kein Fremder, sondern auch für den Psychiater, dem Sie Dinge erzählen, die Sie vor Ihrer besten Freundin verheimlichen würden, für den Kardiologen, dem Sie gestatten, einen Schlauch in Ihr Herz – hallo!! in Ihr Herz! – zu schieben, oder für die Augenärztin, die Ihren kostbaren Augapfel aufschneiden darf, um eine trübe Linse zu ersetzen. Wenn Sie sich da reindenken, merken Sie, dass es bei der Medizin auch bei angeblich harmloseren Störungen sehr schnell ums Ganze geht.
Um zulassen zu können, dass ein Arzt die Grenzen meiner Person durch einen chirurgischen oder medikamentösen Eingriff oder auch durch die oft nicht weniger eingreifende Psychotherapie überschreitet, muss ich mich mit ihm verstehen, muss ich die Gewissheit haben, dass er mich ernst und die Bedrohung meiner Integrität richtig wahrnimmt.
Gute Medizin entsteht also aus dem ganz persönlichen Kontakt des konkreten Arztes mit dem konkreten Patienten. Denn Medizin hat bei aller tollen, manchmal unvorstellbar komplexen Technik – schauen Sie sich ruhig mal im Internet an, was bei einer Operation am offenen Herzen passiert! – vor allem die Aufgabe, diesen einen besonderen, jetzt gerade behandelten Menschen in seiner Einzigartigkeit zu bewahren, damit dieser trotz einer bedrohlichen Krankheit, trotz schwerer Beeinträchtigungen weiter leben kann.
Dynamik und Berechtigung bekommt die Medizin also aus Angst und Not der oder des hilfesuchenden Einzelnen. Weil Menschen in Bedrängnis sich nicht einfach jedem öffnen können, braucht Medizin Empathie. Und weil die erlernte medizinische Fertigkeit trotz noch so perfektionierter Studiengänge oft nicht ausreicht, um herauszufinden, woher das Leiden des Einzelnen kommt, oder wie es zu beheben wäre, braucht sie auch Kreativität: welche Wege sind bei diesem einzigartigen Patienten gangbar, die vielleicht in keinem Lehrbuch stehen? Diese Kreativität muss gar nicht unbedingt auf den fachlichen Schwerpunkt beschränkt sein. Wenn ein Arzt gut ist, kriegt er das Fachliche mit Erfahrung und Sorgfalt schon hin. Aber dann will diese eine Patientin trotz aller ordentlichen Medizin nicht genesen. Und dann kommt der Herzchirurg, der weiß Gott etwas anderes zu tun hätte, auf die Idee, dass etwas am Seelengleichgewicht der Patientin nicht stimmen könnte. Was zwar nicht seine fachliche Aufgabe ist, – aber für diese konkrete Patientin gerade der richtige Gedanke, der ihr dann doch ermöglicht, wieder gesund zu werden.
Begegnung mit dem Anderen, dem es schlecht geht, zum Ziel seiner Besserung, das ist der Kern der Medizin. Begegnen können sich nur Individuen, einzelne, einzigartige Menschen. Ein individueller Patient, ein individueller Arzt.
Dafür braucht Medizin einen Rahmen, besser vielleicht: eine Atmosphäre, in der sie gelingen kann. Und vor allem Anderen braucht sie Zeit: Zeit für die Begegnung zwischen Patient und Arzt, Zeit für den Austausch zwischen Menschen, die unterschiedliche Sprachen sprechen, Zeit, damit Ärzte nachlesen und denken können. Und natürlich auch Zeit für den Kontakt zwischen Pflegepersonal und Patienten, denn die haben oft ja viel mehr miteinander zu tun als Ärzte und Patienten.
Je nachdem, wie der Arzt den Patienten, wie der Patient den Arzt versteht, geht Medizin schneller, oder langsamer. Ich bin nach über 40 Jahren in meinem Fach einigermaßen erfahren und weiß manchmal nach 5 Minuten, was bei diesem einen Patienten los ist. Aber neulich habe ich nach 50 Minuten immer noch keine Ahnung gehabt. Hätte ich die Behandlung abbrechen sollen, weil sie meinen Zeitplan durcheinander brachte? Hätte ich fünfe gerade sein lassen und weniger sorgfältig handeln sollen? Ich habe das irgendwie hingekriegt, aber gerade in den großen Krankenhäusern bekommen junge wie ältere KollegInnen keine Zeit mehr, mit komplexen Situationen fertig zu werden.
Denn völlig unübersehbar ist, dass die Medizin sich geändert hat: getreu dem Spruch von Benjamin Franklin, dass Zeit Geld sei, wird die für den Patienten aufgewendete Zeit zum Schlüsselproblem der medizinischen Gegenwart. Individuell ist kaum noch etwas. Patienten lernen selbst ihre Operateure oft vor der Operation gar nicht mehr kennen, angeblich weil es der Dienstplan nicht erlaubt.
Ich würde den kennen wollen, dem ich mein Leben anvertraue. Sie wollen das nicht?
13. Oft ist Medizin schlecht!
Wenn Sie krank sind, wollen Sie, dass man Sie möglichst gut behandelt. Sie, Ihre Frau, Ihre Kinder, Ihre Eltern. Die vor allem, denn alte Menschen werden ja häufiger krank und pflegebedürftig und brauchen deshalb eine spezielle und auf sie ausgerichtete Medizin. Leider werden gerade alte Menschen oft mit ziemlich schlechter Medizin konfrontiert.
Wie können Sie schlechte von guter Medizin unterscheiden, wenn Sie sich in einem Krankenhaus behandeln lassen, als Kassenpatient aber durchaus auch als Privater? Sie haben es da als Nicht-Fachmann/-frau nicht leicht, denn die Abläufe der heutigen Medizin sind so spezialisiert, dass einer schon sehr viel Durchblick braucht, wenn er erkennen will, dass etwas schlecht läuft.
Ganz einfach und ohne wenn und aber – Medizin ist schlecht, wenn Sie nicht die Zeit bekommen, die Sie für Ihre Fragen, Sorgen, Bedenken, Ängste brauchen. Wenn Sie in irgendwelche Abläufe eingespannt werden, die Ihnen keiner mehr so erklärt, dass Sie sie verstehen könnten. Wenn schon dafür keine Zeit mehr ist, können Sie davon ausgehen, dass es auch anderswo gewaltig hapert.
Und noch einmal, ohne wenn und aber – Sie sind die/der, um die/den es geht, deren Bedürfnisse und Beschwerden diesem Medizinbetrieb seine Berechtigung gibt. Und nicht zuletzt sind Sie schließlich auch die Person, egal ob Kassen- oder Privatpatient, die das Geld bringt, das dieses Krankenhaus verdienen will. Aber irgendwie schafft es der moderne Medizinbetrieb, den Patienten das Geld aus der Tasche zu ziehen, ohne auf ihre wirklichen Bedürfnisse einzugehen. Und gleichzeitig knirscht es an allen Ecken und Enden.
Wie geht man sinnvoll mit den vielen Einzigartigen um? Man nimmt ihre Einzigartigkeit ernst.
11. Wer ist schon durchschnittlich?
Der Durchschnitt ist ein mathematisches Konstrukt zur Vereinfachung der Welt. Seine Berechnung schafft die Möglichkeit, die vielen Einzigartigkeiten dieser Welt auf ihre Gemeinsamkeit reduzieren zu können. Aber das reale Leben von konkreten Menschen bildet eine Betrachtung des Durchschnitts nicht ab. Weil die Berechnung des Durchschnitts die individuelle Variabilität nivelliert, entfernt sie aus dem zwischenmenschlichen Kontakt das, was die einzelnen Menschen wirklich interessant macht, und es entsteht der Eindruck, nur das allen Gemeinsame, nur das Verbindende, sei wichtig. Die ausschließliche Betrachtung des Durchschnittlichen wirkt sich im realen Leben nachteilig auf die Befriedigung der Bedürfnisse konkreter Menschen aus.
Nehmen wir an, eine Pharmafirma sucht ein Medikament, das Menschen mit Depressionen helfen könnte. „Die“ Depression gibt es ebenso wenig wie „den“ Durchschnitt, sondern jeder Depressive hat unterschiedliche Symptome, unterschiedliche Aspekte des Verlaufs, der Häufigkeit, der Kombination mit anderen Störungen. Deswegen sollte ein brauchbares Antidepressivum die meisten und wesentlichen Symptome verschwinden lassen, ohne besonders gravierende unerwünschte Wirkungen zu haben.
Auch das Muster aus unerwünschten Wirkungen ist bei jedem Menschen, der an Depressionen leidet, anders. Das könnten Patienten und Ärzte tolerieren, wenn diese Unterschiede vorhersagbar wären, wenn Ihnen Ihr Psychiater also sagen könnte, dass bei Ihnen dieses oder jenes Medikament wirksam sein wird. Aber weder die erwünschten, noch die unerwünschten Wirkungen eines konkreten Medikamentes sind bei einem bestimmten Patienten, also zum Beispiel bei Ihnen, vorhersagbar, sondern es bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als auszuprobieren, welches Medikament wie wirkt und welche unerwünschten Wirkungen es hat. Zum Beispiel wirkt auch das beste Antidepressivum nur bei 60% der depressiven Patienten: 40 % zeigen keine Wirkung einer Substanz, deren Wirksamkeit in offiziell anerkannten Studien nachgewiesen wurde. Der Psychiater, an den Sie sich in Ihrer Not um Hilfe wenden, muss Ihnen sagen, der Sie u. U. schwer unter Ihrer Depression leiden: die Chance, dass das Medikament, das ich Ihnen jetzt nach bestem Wissen und Gewissen gebe, wirkt, beträgt 60%, nach frühestens zwei Wochen werden wir sehen, ob wir Sie vielleicht auf ein Präparat mit anderem Wirkmechanismus umstellen müssen.
Würden Sie ein Auto kaufen, von dem Ihnen der Verkäufer sagt, dass es nur zu 60 % wirklich anspringt? Tatsächlich leben Patienten und Ärzte bei der Depressionsbehandlung seit vielen Jahren mit dieser Situation.
Ein anderes Beispiel: Wenn Sie schlecht schlafen, haben Sie die Möglichkeit, sich ein schlafanstoßendes Antidepressivum verschreiben zu lassen. Herkömmliche „Schlafmittel“ dürfen Sie nicht nehmen, da Sie sich schnell daran gewöhnen und abhängig werden. Irritierend ist, dass sich auch hier die passende Dosierung nicht voraussagen lässt: eine achtzigjährige Dame braucht u.U. 3 Tabletten, um sechs Stunden schlafen zu können, während ein 30-jähriger Mann mit einer Tablette 12 Stunden schläft und dann immer noch müde ist. Es kann aber auch umgekehrt sein. Viele Patienten kommen zwar mit durchschnittlichen Dosierungen zurecht, aber es gibt immer wieder Menschen, die nicht mehr als ein Fünftel der „normalen“ Dosis gerade so tolerieren.
Selbst ein so alltäglicher Vorgang, wie das Einschlafen lässt sich also nicht mit einfachen pharmakologischen Kochrezepten in den Griff bekommen und ist bei jedem anders. Denn es geht um individuelle, nicht um durchschnittliche Menschen. Natürlich gibt es Patienten, die dem Mittelweg entsprechen. Aber es gibt auch die anderen. Und wenn Ärzte in ihrem Zeitmangel und Alltagsstress nur noch den Durchschnitt für plausibel halten, so führt das unvermeidlich zur Geringschätzung der individuellen Person, deren Symptomschilderung der Arzt nicht glauben mag, weil es nicht seinen durchschnittlichen Vorstellungen von der Pharmakologie medizinischer Symptome entspricht.
Innovative Mediziner schlagen deshalb schon lange eine „personalisierte“ Medizin vor: durch Bestimmung genetischer, epigenetischer und hormoneller Muster realistische, d.h. nicht durchschnittliche, sondern individuelle Patientenprofile zu erstellen, die es erlauben, den einzelnen einzigartigen Patienten auf den Punkt zu behandeln, – in der ganzen Medizin, zum Beispiel um die Bedeutung der immer (!) individuellen Stressfaktoren zu entdecken (1), im Bereich der Psychiatrie (2), und auch in der Krebstherapie (3).
In der Krebsmedizin wird dieser Ansatz schon oft umgesetzt, aber wenn sie Ihren Psychiater in den maximal 10 Minuten, die Ihnen in unserem Kassensystem bleiben, auch noch fragen, ob er diese neue personalisierte Depressionstherapie kenne, wird er Sie allenfalls erstaunt, wahrscheinlich aber genervt anschauen. Denn falls er noch Zeit zum Lesen von Fachliteratur hat, die Zeit, an Ihnen so etwas auszuprobieren, hat er sicher nicht mehr! Sollte es anders sein, haben Sie ziemliches Glück.
Vielleicht wird auch für Sie deutlich, dass die an sich wertfreie Praxis, Durchschnittsbetrachtungen anzustellen, allenfalls der Statistik, aber nicht dem einzelnen Individuum gerecht wird. Medizinische Praxis, die sich auf den Durchschnitt zurückzieht, anstatt wenigstens den Versuch zu machen, der irritierenden Einzigartigkeit des Individuums gerecht zu werden, bleibt ziemlich weit hinter den Möglichkeiten zurück, die uns die moderne Forschung zur Verfügung stellt!
Hellhammer D & Hellhammer J (2011). – Stress Medicine: From Bench to Bedside. In: CL Cooper & AS Anoniou (Eds.), New Directions in Organisational Psychology and Behavioural Medicine (p. 63-76). Ashgate Publishing Ltd.
Keck M, Holsboer F: Behandlung nach Maß, Gehirn und Geist, Dossier 1, 2016
Siegmund-Schultze, Nicola: Personalisierte Medizin in der Onkologie: Fortschritt oder falsches Versprechen? Deutsches Ärzteblatt 2011; 108(37)
Dass Menschen einzigartig sind, prädestiniert sie ganz besonders für den Kontakt mit anderen. Man könnte sagen, dass die Stärke von uns Menschen gerade im Zusammentreffen unterschiedlicher Einzigartiger liegt.
10. Allein überleben die Einzigartigen nicht.
Einzigartigkeit reicht allein nicht fürs Überleben. Das zeigt ja schon die Geschichte von Westhauser. Auch in der Welt, aus der unsere Vorfahren kamen, hätte die Autonomie der Ichs kaum fürs Überleben gereicht. Das hat sich bis heute nicht geändert. Ein autonomes Ich muss es also in der Vergangenheit geschafft haben, mit anderen autonomen Ichs auszukommen und, besser noch, zu kooperieren. Bis heute liegt in unserer Fähigkeit zu sozialen Kontakten unsere Chance. Wir Menschen sind zum Zusammenleben prädestiniert, ja mehr noch, die Mechanismen der Kooperation lassen sich als Grundsteine unserer Moral verstehen!
Michael Tomasello, der langjährige Direktor des Max-Planck-Instituts für Anthropologie in Leipzig, hat beschrieben, wie menschliche Moral entstanden sein könnte, – zu einer Zeit, als definitiv niemand in der Lage war, allein zu überleben. Seine Forschung legt nahe, dass Moral als Regelwerk menschlichen Zusammenlebens nicht eine abstrakte Kopfgeburt ist, die bei Bedarf jederzeit zu ändern wäre, sondern eine elementare Konsequenz aus der Begegnung zweier Menschen.
Obwohl die damaligen Zeiten zweifelsohne hart waren, ist die Eignung zum Zusammenleben nicht allein aus Zwang und Not erwachsen. Sondern angeregt aus dem zwischenmenschlichen Interesse, aus der verblüffenden Wahrnehmung, dass da eine Person ist, deren Andersartigkeit mein Interesse weckt und deren Sicht der Welt ganz nebenbei Lösungsvorschläge gemeinsamer Probleme vermittelt, die ich aus meiner individuellen Sichtweise nicht finden würde. Das Besondere am Menschen ist seine Fähigkeit zur gemeinsam geteilten Aufmerksamkeit, zur „shared attention“ (1):
„… Sie macht das menschliche Weltverhältnis so einzigartig. Wenn ich auf diesen Stuhl zeige – oder eine Antilope -, nehmen wir sie beide wahr. Und beide natürlich anders. (!) Und damit ist schon entscheidendes geschehen. Denn damit begreife ich ja schon- sonst würde meine Zeigegeste ja gar keinen Sinn machen-, dass meine eigene Perspektive auf die Welt nur eine unter anderen ist. Nach dem Motto: „Oh, ich sehe die Welt so, und du siehst sie so…“
Und möglicher Weise ist die Perspektive des Anderen gerade die entscheidende Variante, die den Ausweg aus einer Sackgasse präsentiert. Spezifisch menschlich wäre also, dass uns der andere erst verwundert, vielleicht irritiert, dann unser Staunen und schließlich unser Nachdenken hervorruft. Ich finde das eigentlich sehr hübsch!
Tomasello nimmt an, dass sich daraus die emotional-kognitive Grundlage der „Wir-Haltung“ entwickelt: von oben auf Situationen schauen, in denen es um den anderen und um mich geht, nicht aus der „Ich“- oder „Er“-, sondern aus der Wir-Perspektive! Das erlaubt uns, kritische Lebenssituationen, – wem gehört die gefundene Nahrung, wer hat Anteil an dem gejagten Wild, – in einer für die Gemeinschaft sinnvollen und tragfähigen Weise zu lösen. So kommt der Egoismus der autonomen Ichs weiter, bewegt sich auf eine Ebene, die beider Überleben und eine Weiterentwicklung der Gruppe sichert. Nicht ein dumpfer moralischer Zwang, sondern Neugier, Interesse am Anderen und seiner Sichtweise auf die Dinge!
Auf dieser Stufe der Kooperation zwischen zwei Individuen gibt es noch keinen Zwang zur Konformität. (2) Der entsteht offenbar erst, wenn sich die Gruppen so vergrößern, dass der Einzelne den Überblick verliert, vor allem an den Rändern der Gruppe. Da wird es wichtig, Gruppenzugehörigkeit auf Grund gemeinsamen Tuns, gemeinsamer Einstellungen zu definieren: in meiner Gruppe verhält man sich so oder so. Oder: wenn sich einer anders verhält, gehört er nicht zu meiner Gruppe. Kommt Ihnen das vertraut vor? Unsere Gesellschaft besteht ja zweifellos aus sehr großen Gruppen, was Konformität und Normen nötig macht, aber auch Spannung zwischen der individuellen Kommunikation und der Gruppennorm hervorruft. Die Einzelnen müssen Anpassung an die Gruppe leisten, zu der sie sich zugehörig fühlen. Hier wird deutlich, in welchem Spannungszustand die Sichtweise der 2-er-Konstellation zu der einer größeren Gruppierung stehen. Gruppenzugehörigkeit und ihre Zwänge gestatten weniger Offenheit gegenüber einem unvertrauten, fremden Anderen als die Begegnung zu zweit. Was ist wichtiger für die Weiterentwicklung, für den Fortschritt? Jedenfalls ist die Bereitschaft, auch ungewöhnliche Wege zu gehen, in der 2-er-Konstellation grösser. Kreativität ist Sache der Einzelpersönlichkeit und wertschätzen kann sie ein anderer Einzelner sicher eher, als eine größere Gruppe, die ständig auch die Gruppenhierarchie im Auge behalten muss.
Ist eine solche Anpassung nicht ein ziemlich schwieriger Prozess? Anpassung zwischen Starken und Schwachen, Reichen und Armen, Frauen und Männern, Syrern und Bayern, Christen und Moslems? Die sollen und wollen alle mehr oder weniger miteinander auskommen. Wie soll das gehen? Komplexe Geschichte? Ja, genau. Wenn der Begriff Komplexität für etwas zutrifft, dann für den Umgang von Menschen miteinander.
Das können Sie gar nicht ernst genug nehmen! Dass Menschen miteinander auskommen, ist überhaupt nicht selbstverständlich und überhaupt nicht einfach! Etwas anderes zu behaupten wäre erstens eine dümmliche Vereinfachung und zweitens entginge Ihnen damit die Chance, die Besonderheit menschlicher Kommunikation wahrzunehmen und zu schätzen. Wenn Sie mit Menschen zurechtkommen wollen, dann müssen Sie die Komplexität auf der Rechnung haben. Sie akzeptieren. Dies ist Ihre Chance.
Nicht ableiten kann man daraus, dass der eine oder der andere Standpunkt, der des Einzelnen oder der Gruppe automatisch besser oder stärker wäre. Was besser zu Ihnen passt, müssen Sie schon herausfinden, immer wieder in Ihrem Leben.
Vereinfachen ist ein naheliegender Wunsch, der aber schief geht, wenn man es mit Komplexität zu tun hat. Den Umgang mit der Komplexität beschreibt die Chaostheorie. Das ist schon lange bekannt. Auch Politiker könnten mal zur Kenntnis nehmen, dass man Komplexität nicht vermeiden kann.
Vielleicht kommt Ihnen die Faszination, welche die Einzigartigkeit menschlicher Individuen auf mich ausübt, etwas abgehoben vor, losgelöst von den alltäglichen Realitäten. Tatsächlich sind wohl eher diese sogenannten Realitäten abgehoben, denn unser aller Einzigartigkeit ist eine sehr solide Tatsache, festgemauert in den Genen.
8. Sie gibt es nicht noch mal.
Menschliche Einzigartigkeit ist nicht in erster Linie ein Thema der Philosophie oder Moral, sondern der Biologie. Die Unverwechselbarkeit eines Individuums ist genetisch bedingt und wird durch die Immunologie umgesetzt.
Der heute aktive genetische Pool des sogenannten Homo sapiens ist wahrscheinlich in Afrika vollendet worden, von wo unsere Vorfahren nach Europa und Asien auswanderten. Wir stammen also aus Afrika. Dort war die Quelle des unglaublichen Potentials, das zu all dem führte, was Menschen geschaffen haben! – Vor diesem Hintergrund finde ich es übrigens schon irgendwie komisch und beklemmend, dass so viele die heutigen Afrikaner mit allen Mitteln daran hindern wollen, nach Europa zu kommen.-
Aus dem genetischen Pool Ihrer Herkunftsfamilien ist durch die Kombination Ihrer Gene ein Unikat entstanden, – Sie! Als Unikat ähneln Sie Mutter und Vater, auch mehr oder weniger den Geschwistern, aber letztlich sind Sie doch absolut einzig. Wie sehr einzig, merken Sie ganz unmittelbar, wenn Sie in die Notlage kommen, ein Organ, das Ihnen seinen Dienst aufgekündigt hat, durch eine Organspende eines anderen Menschen ersetzen zu müssen.
Nehmen wir an, Sie bekommen einen Virusinfekt, eigentlich eine banale, alltägliche Angelegenheit. Aber bei Ihnen wird Ihr Herzmuskel von dem Virus angegriffen und zerstört. Warum ausgerechnet Ihnen so etwas passiert, wissen wir nicht. Aber es kommt vor, immer häufiger auch bei jungen Menschen. Ihr Herz wird dann immer schwächer, bis es seine Aufgabe, das Blut durch die Lunge zur Aufladung mit Sauerstoff und dann durch den Körper zu pumpen, – jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde, – nicht mehr erfüllen kann. Sie können sich nur noch mit Mühe bewegen, nur noch liegen, bald werden Sie sterben. Es sei denn, Sie bekämen ein Herz transplantiert. Das geht aber nur, wenn ein anderer Mensch, der sehr häufig Motorradfahrer ist, erstens einen so schweren Unfall hat, dass sein Gehirn nicht mehr, aber Herz, Leber etc. durchaus noch lebensfähig sind, und zweitens vor seinem Unfall vorausschauend solidarisch war und eine Organspendenerklärung unterschrieben hat.
Der chirurgisch-handwerkliche Teil einer Organtransplantation setzt große Geschicklichkeit und Erfahrung voraus, ist aber nicht der limitierende Faktor. Die enorme Schwierigkeit liegt darin, einen geeigneten Spender zu finden. Denn das in Sie transplantierte Organ eines anderen ist für Ihr Immunsystem fremd, es sei denn, der Andere wäre Ihr eineiiger Zwilling, der Ihnen genetisch gleicht. Jeder andere Spender ist immunologisch zweite oder dritte Wahl, und in diesem Fall müssen immunsuppressive Behandlungen Ihr Immunsystem so weit schwächen, dass es das transplantierte Organ nicht mehr angreift. Was mal besser und mal schlechter gelingt und mit dem Preis einer generell geschwächten Immunabwehr, also vermehrten Infekten und leider auch einer erhöhten Neigung zu Tumoren bezahlt wird.
Bei fehlender Übereinstimmung attackiert Ihr Immunsystem dieses Organ so lange, bis es aus Ihrem Organismus abgestoßen, d.h. vernichtet wird. Anders ausgedrückt: wenn das für Sie doch so kostbare, lebenswichtige Herz Ihrer Einzigartigkeit nicht entspricht, akzeptiert Ihr Immunsystem es nicht und lässt Sie eher sterben, als dass es das, als fremd erkannte Organ tolerieren würde! Das biologische Prinzip der Einzigartigkeit wird offenbar wesentlich rigoroser durchgesetzt, als alle moralisch-philosophischen Konzepte.
Aber auch gegenüber einem genetisch identischen eineiigen Zwilling, sind Sie einzigartig. Das liegt an Ihren Erfahrungen und ihrem Einfluss auf die Genexpression.
9. Kann man Genetik denn verändern?
Lange Zeit dachte man, dass genetische Information quasi fest verdrahtet wäre und sich während des ganzen Lebens nicht verändern würde. Heute wissen wir, dass Gene an- oder ab-„geschaltet“ werden können.
Diese Geschichte hat zwei Seiten, eine schöne, menschenfreundliche und eine schreckliche. Die schöne Seite zeigt die Lebensgeschichte von Eric Kandel. (1) Schon wieder so ein Nobelpreisträger, aber obwohl er wunderbare Bücher schreibt, nicht für Literatur, sondern für Medizin. Seine Interessen waren, vorsichtig ausgedrückt, sehr divergierend und wer glaubt, dass Karrieren stromlinienförmig auszusehen haben, wird ihn wohl für etwas verrückt halten. Er hat Psychoanalyse gelernt, – diese orthodoxe Form der Psychotherapie, bei der Sie auf der Couch liegen und in Ihren Assoziationen das Unbewusste zur Sprache bringen. Anstatt als Analytiker und Therapeut sein Leben zuzubringen, beschloss er, den Zusammenhang zwischen Psychotherapie und Gehirn zu ergründen, indem er die Funktion einzelner Nervenzellen an der Meeresschnecke Aplysia, dem Seehasen erforschte. Zellforscher wie Therapeuten hielten diese Kombination aus Fragestellung und Methode nicht für zielführend, vorsichtig ausgedrückt, aber Kandel ließ sich nicht beirren. Er machte Umwege, musste Durststrecken überwinden, und hat schließlich ein Modell für das Lernen entdeckt. Das erklärt unter anderem, was sich bei Psychotherapie verändert, wenn sie nachhaltig wirksam ist. Denn bei sehr grundlegenden Erlebnissen und Erfahrungen verändern sich die elektrischen Entladungsmuster einzelner Nervenzellen bleibend, – indem sie einzelne Gene, die Ionenkanäle regulieren, an- oder abschalten! Die Erkenntnis war verblüffend und neu, man glaubte ja bis dahin, dass die genetische Information eines Lebewesens unveränderbar sei. Mit seinen Befunden zeigte Kandel, dass Erfahrung und Genetik keine Gegensätze, sondern zwei Seiten der biologischen Einzigartigkeit sind.
Grundlegende Erfahrungen machen Sie aber nicht nur in der Psychotherapie, sondern auch im realen Leben, und das bringt uns zur schrecklichen Seite der Epigenetik, die aus Krieg, Folter und Katastrophen besteht. (2)
Eine schreckliche Version hat mit der deutschen Art der Kriegsführung im 2. Weltkrieg zu tun: als strategische Maßnahme zur Zermürbung der Bevölkerung blockierte die Wehrmachtsführung die Nahrungszufuhr. In Leningrad 1941/42 und in den Niederlanden 1944/45 litten die Menschen furchtbaren Hunger, viele von ihnen verstarben, manche überlebten nur, indem sie sich – Holland! – zum Beispiel von Blumenzwiebeln ernährten.
Unter den Überlebenden waren auch schwangere Frauen, die irgendwann danach ihre Kinder bekamen. Und obwohl diese Kinder nicht mehr hungern mussten, weil der Krieg oder die Belagerungsphase ja vorbei war, hatten sie signifikant häufiger eine Stoffwechsellage, die sie für den Diabetes anfällig machte, also eine Zuckerkrankheit, bei der die Inselzellen der Bauchspeicheldrüse zu wenig Insulin produzieren. Offenbar waren in der Hungerphase bei den Embryonen Gene angeschaltet worden, die während der Mangelernährung eine optimale Nahrungsausnutzung erlaubten, aber das Nahrungsangebot in normaleren Zeiten nicht mehr bewältigen konnten. In Russland, wo es nach der Hungerphase weniger Nahrung gab, als in den Niederlanden, war dieser Effekt weniger stark ausgeprägt, d.h. weniger Kinder erkrankten an Diabetes.
Das Fazit beider Geschichten ist Folgendes: Wenn wir gravierende Ereignisse erleben, die uns seelisch und/oder körperlich an unsere Grenzen bringen, kann der Aktivitätszustand unserer Gene bleibend verändert werden, was Krankheiten, – oder auch ihre Heilung bedingen kann. Wo die Schwelle für die Aktivierung epigenetischer Mechanismen liegt, wissen wir nicht genau. Aber sie scheint auf jeden Fall durch Ereignisse überschritten zu werden, die post-traumatische Störungen verursachen, Kriege, lebensbedrohliche Situationen, die Flucht über das Mittelmeer, wenn neben mir nahestehende Menschen ertrinken. Es ist also nicht nur so, dass solche Ereignisse furchtbar schwer zu überleben und zu ertragen sind, sondern sie verändern die seelische und körperliche Ausstattung, Ihre Persönlichkeit und die Ihrer Kinder und Kindeskinder nachhaltig. (3) Und machen so Ihre Einzigartigkeit aus. Die hat also mindestens zwei Wurzeln, die Genetik und das, was Sie und Ihre Vorfahren erlebt haben.
Eric Kandel: Auf der Suche nach dem Gedächtnis, Goldmann 2014, ISBN 978-3-442-15780-8
Elbert, T. & Schauer, M. (2014). Wenn Gegenwart zur Illusion wird. Spuren belastender Lebenserfahrungen in Genom, Gehirn und Geist. Nova Acta Leopoldina NF, 120(405), 3-19.
A.S. Zannas, N. Provencal, E. B. Binder, Epigenetics of Posttraumatic Stress Disorder: Current Evidence, Challenges, and Future Directions, Biological Psychiatry 78,5, 327-335, 2015
Zugegeben, – um ein Gespräch über den Wert des Menschen zu beginnen, sind Rettungseinsätze in Höhlen oder auf Intensivstationen vielleicht etwas ungewöhnlich. Gewöhnlich sind auch Nobelpreise allerdings ganz und gar nicht. Und doch sind die einzigartigen Geehrten gleichzeitig ganz gewöhnliche Menschen.
6. Dem russischen Rowdy sah man den Nobelpreis nicht an.
Wer etwas Herausragendes für die Menschheit getan hat, erfahren wir alle Jahre wieder bei der Bekanntgabe der Nobelpreisträger. Denn Alfred Nobels Stiftung „… shall constitute a fund, the interest on which shall be annually distributed in the form of prizes to those who, during the preceding year, shall have conferred the greatest benefit to mankind…?“ (1)
Wert wird ganz eindeutig als „Wert für die Menschheit“ definiert und mit Geld honoriert, denn Alfred Nobel war Industrieller mit unbezweifelbaren Fähigkeiten auf dem Gebiet des Gelderwerbs.
Und nun fragen Sie sich bitte, ob der mit folgenden biografischen Daten beschriebene Mensch dem hehren Ziel aus Nobels Text entspricht:
Er wurde in Leningrad als einziger Sohn jüdischer Eltern geboren. Sein Vater war Fotograf, die Mutter arbeitete im Krieg als Dolmetscherin, später als Buchhalterin. Er verließ die Schule in der neunten Klasse, im Alter von 15 Jahren. (Wenn Ihr Sohn, Ihre Tochter die Schule zu diesem Zeitpunkt verlassen würden, fänden Sie das wohl auch ziemlich einzigartig, aber wohl kaum im positiven Sinn.)
Danach arbeitete er als Fräser, Labor- und Fabrikarbeiter, Krankenhausangestellter und Teilnehmer an geologischen Expeditionen.
Im Selbststudium lernte er Polnisch und Englisch und schrieb Ende der 1950er Jahre erste eigene Gedichte, übersetzte ausländische Gedichte. Mit diesen Aktivitäten geriet er ins Visier der russischen Politik, die ihm „Parasitentum“ vor warf. Man behauptete, er hätte die Entführung eines Flugzeugs geplant, um damit ins Ausland zu gelangen.
1964 wurde er zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt! Nach 18 Monaten, die er in der Gegend von Archangelsk – sehr nördlich, sehr östlich und sehr kalt! – zubringen musste, wurde er entlassen.
1972 bürgerten ihn die russischen Behörden aus der Sowjetunion aus und setzten ihn, nachdem ihm zuvor alle Manuskripte abgenommen worden waren, in ein Flugzeug nach Wien. Er kam mit einem Koffer und 50 Dollar in der Tasche an.
Stellen Sie sich vor, Sie wären der österreichische Einwanderungsbeamte, der ihm in Wien begegnete! Wäre Ihre Einschätzung, dass da ein mittelloser Flüchtling mit nicht beweisbarer Vergangenheit als Gedichteschreiber erschien, so abwegig gewesen? Unfreundlicher, oder sagen wir – zeitgemäßer – ausgedrückt, ein Versager, dessen Kosten dem österreichischen Staat aufgebürdet werden sollten? Seien Sie ehrlich: hätten Sie seinen Wert für die Menschheit geahnt? Der österreichische Staat musste übrigens nicht lange für ihn zahlen, denn er zog schnell weiter, nach England und dann in die USA.
Rückblickend finde ich schon, dass man seine Einzigartigkeit hätte wahrnehmen können, denn Joseph Brodsky, Literaturnobelpreisträger des Jahres 1987, – um den handelt es sich – strahlt auf Fotos ein inneres Leuchten aus. Vielleicht hätten Sie es als starke Erfahrung erlebt, ihn persönlich kennen gelernt zu haben, denn ganz offensichtlich hatte er Charisma. Das verspürte auch HW Auden, noch so ein einzigartiger Dichter, der sich um ihn bei seinen ersten Schritten im Westen kümmerte. Die Ausbürgerung hatte keine negative Wirkung auf seine poetische Begabung, die sich auch im völlig anderen Sprach- und Kulturkreis so energisch durchsetzte, dass er nach 15 Jahren den Literaturnobelpreis bekam. Um ein Gespür für seine dichterische Kraft zu bekommen, sollten Sie vielleicht seine „Römischen Elegien“ (2) lesen, oder das „Ufer der Verlorenen“. (3) Italien und besonders Venedig hatten es ihm angetan. Sehr Grundsätzliches bespricht er in „Der sterbliche Dichter. Über Literatur, Liebschaften und Langeweile.“ (4)
Wir lernen, dass eine Biografie als russischer Rowdy oder mittelloser Abgeschobener eines totalitären Systems die spätere Wertbekundung durch einen Nobelpreis keineswegs verhindert. Welche Einzigartigkeit sich hinter solchen Äußerlichkeiten verbirgt, sieht man eben nicht. Ebenso wie ein Leben im französischen Ghetto und ein Knochenjob als Straßenarbeiter nicht ausschließen, dass einer später Fußballer des Jahres und Gewinner der Champions League wird (Frank Ribery), oder ein Job als Schwimmlehrer bei der Navy eine internationale Karriere als Schauspieler und Regisseur (Clint Eastwood). Auch wenn diese Formen öffentlicher Anerkennung einem Nobelpreis nicht unbedingt gleichzusetzen sind, haben diese Menschen es immerhin zu Ansehen und Reichtum gebracht, obwohl sie aus kleinsten Verhältnissen kamen. Zu ihrer Zeit war die Welt auch noch in Ordnung.
7. Menschen sind einzigartig, mit und ohne Nobelpreis.
Einzigartige Menschen. Sie!
Schauen Sie sich die Menschen genau an! Ihre Mimik. Wie sie sich bewegen. Hören Sie ihnen zu. Achten Sie auf Gefühle, die sie in Ihnen auslösen. Ich bin immer wieder erstaunt, wie vielfältig Menschen sind, wie originell, wie komplex. Und wie verrückt auch die sogenannten „Normalen“ sein können! Alle sind einzigartig. Dabei keineswegs durchwegs gut, das reine Herz ist nicht jedermanns Sache. Menschen lügen und tricksen, dass sich die Balken biegen, Politiker, Banker, aber auch der sogenannte kleine Mann. Die entsprechenden Frauen auch. Andere wieder sind von großer Selbstlosigkeit und Sanftheit und versuchen, die Ungerechtigkeiten des Lebens auszugleichen.
Im Potential der vielen Einzigartigen liegt die Chance der Menschheit. Finden Sie, das klingt überzogen? Was für eine Chance? Auf Neues, auf Entwicklung, vielleicht auch auf Rettung, – so beruhigend ist ja nicht, was der Mainstream hervorbringt. Vielleicht könnte es eben doch gerade weitergehen mit uns, den Menschen, weil es einen kreativen Widerspruch zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv gibt. Trotz der auch in den sozialen Medien ständig präsentierten Forderung nach Konformität, nach Anpassung!
In diesen harten Zeiten sind wir auf Originelles angewiesen: „The reasonable man adapts himself to the world; the unreasonable one persists in trying to adapt the world to himself. Therefore all progress depends on the unreasonable man.“ (5)
Könnten diese Unvernünftigen, die Shaw meint, beispielsweise Widerstand leisten gegen die alles dominierende Pseudovernunft der Finanzökonomie? Und uns so Alternativen zu diesem grässlichen Irrweg zeigen, der die Einzelnen und die Menschheit ruiniert?
Ändern Sie Ihr Leben: Ihnen nützt nicht, was Ihr, oder vielmehr das Geld der Wenigen vermehrt, sondern was Vielfalt, Originalität, Staunen, Verblüffung, hervorbringt! Denn daraus entstehen Friede, Wohlergehen, Gesundheit! Für möglichst viele, die dann unsere Welt aus dem Schlamassel retten, in das wir sie in den letzten Jahrzehnten durch unsere Gier nach dem Geld bewegt haben. Utopie?
Bei der Rettung aus extremen Notlagen schaut die Solidargemeinschaft nicht aufs Geld, – der Mensch ist mehr wert. Was sind die Hintergründe? Und wird es so bleiben?
4. Das „Riesending“
Am 9. Juni 2014 ist etwas Unglaubliches geschehen: der Höhlenforscher Johann Westhauser verunglückte tief unter der Erde und kam in eine ausweglose Situation. Aber er wurde gerettet, was fast eine Million Euro kostete.
Westhauser stieg in eine riesige Höhle im sagenhaften Untersberg in den Berchtesgadener Alpen ein, die wegen ihrer Ausmaße „Riesending-Höhle“ genannt wird. Er wurde durch einen Steinschlag verschüttet, blieb schwer verletzt stecken. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich schnell und seine Überlebenschancen hingen allein davon ab, ob sich andere höhlenerfahrene Menschen bereit finden würden, zu ihm hinabzusteigen, ihn zu suchen, aus den Gesteinsmaßen zu befreien und in seinem schwer verletzten und schwer transportablen Zustand ans Tageslicht zu transportieren.
Tatsächlich machten sich sieben internationale Rettungsteams in das „Riesending“ auf, fanden und retteten den schwer verletzten Forscher. Obwohl Westhauser mehrere Herzstillstände hatte und jedes Mal in der Höhle unter widrigsten Bedingungen wiederbelebt werden musste, gelang es nach sechs Tagen, ihn der Höhle zu entreißen. Über 700 Menschen wirkten an seiner Rettung mit.
«Die haben dort geschuftet, die haben dort Höchstleistungen gebracht. Die Besten der Höhlenrettung in Europa waren hier versammelt.» (1)
Das sollten Sie verstehen: Westhauser ist in diese Höhle eingestiegen, weil ihn die Herausforderung reizte, weil er Lust dazu hatte. Ob er an die Folgen gedacht hat, weiß man nicht, um Erlaubnis hat er jedenfalls niemanden gefragt. Und wie das Kind im Brunnen, bzw der Westhauser in der Höhle verschüttet war, wurde er heraus geholt. Das kostete Einsatz, großen Mut und nach der Berechnung des für Berchtesgaden und damit auch für das „Riesending“ zuständigen bayerischen Innenministeriums 960.000 Euro. Also fast eine Million, unter anderem für Hubschraubereinsätze, Material der Bergwacht sowie Lohnzahlungen für die Ehrenamtlichen. (2)
Das hat der Freistaat Bayern gewuppt. Ob das in Ihr politisches Weltbild passt oder nicht. Bayern! Nicht irgendwelche human-rights-Aktivisten! Nein. Die bayerische Landesregierung hat die Aktion geleitet, die bayerischen Steuerzahler haben die Kosten getragen. Niemand hat gefragt, ob man diese Kosten aufwenden solle, Westhauser wurde einfach gerettet. Er war das unserer Gesellschaft wert. Solidarität nennt man das!
Sehen Sie diesen Enthusiasmus kritisch? Hätten Sie persönlich den Westhauser in seiner Höhle gelassen? Ausgerechnet ein Höhlenforscher, ein Spinner! Dann wäre er sicher bald gestorben, weil man ihn nicht acht Male hätte wiederbeleben können! Ich persönlich halte es hier ganz klar mit der Solidarität der Bürger des Freistaats, trotz meiner mehr als vorsichtigen Distanz zu den politischen Auffassungen seines Ministerpräsidenten.
Inzwischen geht es dem Westhauser wieder gut und er ist inzwischen schon wieder in Höhlen eingestiegen. Typisch Höhlenforscher, würden Menschen sagen, die ähnlich gefährliche Hobbies betreiben. Als begeisterter Skifahrer würden Sie nach einem Skiunfall auch wieder Ski fahren, aus psychologischer Sicht sollten Sie es sogar, um kein Vermeidungsverhalten zu entwickeln. Aber natürlich könnten Sie als Skifahrer oder Höhlenforscher auch wieder verunglücken.
Und nach den Regeln der Solidargemeinschaft werden Sie dann auch wieder gerettet. Kein Gesetz schreibt vor, dass wir nach so einem Rettungseinsatz auf unsere Hobbies verzichten müssen. Allerdings: Wie würde die Solidargemeinschaft wohl reagieren, wenn es nicht der Höhlenforscher Westhauser wäre, sondern ein verirrter syrischer Flüchtling, der im Untersberg abgestürzt wäre? Wäre der auch eine Million wert gewesen? Eine ungewöhnliche Vorstellung, sonst ertrinken Flüchtlinge ja eher. Die gehören ja auch nicht zu unserer Solidargemeinschaft. Aber sind sie nicht auch Menschen?
5. Warum ist uns ein Mensch eine Million wert?
Ist die Erforschung von Höhlen für unsere Gesellschaft so wichtig? Bei allem Respekt vor den Höhlenforschern – eher nicht.
Eine andere Möglichkeit wäre, dass das Leben des Einzelnen für unsere Solidargemeinschaft deshalb für so wertvoll angesehen wird, weil jeder davon ausgeht, dass auch er im Ernstfall so hoch bewertet, – und eben gerettet würde.
Tatsächlich beruhte unser Gesundheitswesen bis vor kurzem auf dieser Annahme. Auch wenn die Solidarität dort meist nicht Westhauser´sche Ausmaße erreicht, bestimmt der Wert des Einzelnen das Handeln in der Medizin sehr weitgehend. Einerseits.
Andererseits gibt es Hinweise, dass die Solidarität bröckelt. In einer Fortbildung für evangelische Pfarrer meldete sich einer, der Rettungswagenfahrer betreut. Rettungswagenpersonal ist als erstes vor Ort, – bei Unfall, Herzinfarkt, Schlaganfall, und so weiter. Neuerdings käme es schon manchmal zu Diskussionen, ob der ganze Rettungsaufwand pro Person denn überhaupt gerechtfertigt sei. Bei über 80-jährigen brauche man doch gar nicht mehr die Intensivstationen anzufahren.
Der Wahrheitsgehalt solcher Erzählungen ist schwer zu überprüfen, aber für ganz unwahrscheinlich halte ich das nicht: So eine Haltung ist wahrscheinlich nicht auf dem Mist von Rettungssanitätern gewachsen, denn die sind so sozialisiert, dass sie Leben retten wollen. Aber im Umfeld der Medizin haben sich so viele fremde, am finanziellen Gewinn orientierte Gedanken breit gemacht, dass es fast schon ein Wunder wäre, wenn diejenigen nicht davon angekränkelt würden, die eigentlich dafür da sind, Menschen ohne Ansehen ihrer Person, ihres Geschlechts oder Alters zu retten.
Gibt es andere Maßstäbe für den Wert des Menschen, als die Solidarität?