Ist Glück etwas, das ich „bekomme“ und dann „habe“? Die Umgangssprache scheint Letzteres zu unterstellen. Oder entsteht Glück aus dem, was ich tue? Auffällig selten wird Glück im Zusammenhang mit den Realitäten des Berufslebens genannt. Wenn unser Glück aber vor dem Ruhestand eine Chance auf Realisierung haben soll, muss es auch in unserer Arbeit vorkommen. Die wir – zumindest in den mitteleuropäischen Zivilisationen – selber gestalten können. Könnten!
21. Gibt es geldfreies Glück?
“Happiness, in fact, is a condition that must be prepared for, cultivated, and defended privately by each person. (1)”
Spannend, diese Glücks-Definition des Mannes mit dem unaussprechlichen Namen – Mihaly Csikszentmihalyi! Sie müssen etwas tun, damit Sie Glück empfinden können. Zunächst mal allein, denn Glück ist eine Angelegenheit nur von Ihnen, diesem einzigartigen Menschen. Einzigartig – Sie erinnern sich?
Csikszentmihalyi nimmt an, dass Glück dann entstehen kann, wenn ein Individuum ganz und gar in einer Tätigkeit – handwerklich, sportlich, sozial, oder auch kreativ, künstlerisch – aufgeht und alles andere ausblendet. Dann kommt eine/r in den flow. Flow ist eine Glückform, die nachhaltig und stark ist. Wenn Sie im flow handeln, sind Sie mit sich ganz und gar im Reinen. Ihr Tun wird möglicherweise auch Andere beeindrucken, ob sie nun verstehen, was da mit Ihnen passiert oder nicht! Es ist aber ganz und gar Ihr Flow!
Dieses Verständnis von Glück ist an Ihre Einzigartigkeit gebunden. Nur wenn Sie auf das fokussieren, was Sie tun, wenn Sie ganz in dieser Tätigkeit aufgehen, schaffen Sie die Voraussetzungen, um Glück im flow zu empfinden. Der Zweck, das „Warum“ interessiert dabei nicht. Auch nicht das Geld, was damit vielleicht verdient werden kann.

The pursuit of happiness im Sinn von Csikszentmihalyi hat etwas mit Glück durch Selbstverwirklichung zu tun, – im Gegensatz zur Glückssuche durch Raffen von immer mehr Geld. Zunächst ist das Ihre ganz persönliche Angelegenheit: wenn Sie im Tiefschneefahren, Kitesurfen, in Ihrer Geige oder in einer Yogameditation „versinken“. Übrigens können Sie diesen Zustand auch als operierender Arzt, als Psychotherapeut, oder in der Pflege eines kranken Anderen erreichen. Wahrscheinlich auch in anderen Tätigkeiten, die ich nicht kenne.
Aber der Knackpunkt in der heutigen Arbeitssituation ist, dass dieser kreative Prozess „… must be defended.!” Verteidigt? Schon, denn dieser Entstehungsprozess des flow aus dem Fühlen und Handeln des Einzelnen weiß nichts von gesellschaftlichen Realitäten und Vorschriften. Obwohl das, was der Einzelne im flow generiert, eigentlich ein Geschenk für ihn und andere sein könnte, gerät es schnell in ein Spannungsverhältnis zur Norm. Von den Voraussetzungen ganz zu schweigen: Viele Arbeitsbedingungen sind so gestaltet, dass der Einzelne gar keine Chance hat, zu sich selbst zu kommen.
Also: Kampf, Verteidigung, wenn Sie sich etwas wert sind! Ihre Werte gegen das verteidigen, was sich als Norm breit gemacht hat, auch wenn es völlig unsinnig ist. Ob es zur Weiterentwicklung oder zum Bruch kommt, hängt von Ihrem Lebensentwurf und Ihrer Bereitschaft ab, sich für sich einzusetzen.
Die Grenze, wohin individuelle Kreativität nicht gehen soll, zieht Daniel Schreiber: „Wir sind nicht dafür geschaffen, Dinge zu tun, die wir tief in unserem Inneren nicht tun wollen.“ (2)
Was soll das denn heißen? Jobs danach auswählen, ob sie Ihrer inneren Einstellung entsprechen? In den heutigen, durch Globalisierung und nun auch noch Digitalisierung immer härter werdenden Arbeitswelt hat der Einzelne doch gar keine Wahl! Muss man nicht Jobs annehmen, einzig und allein um Geld zu verdienen? Deren Mangel an Wertschätzung und persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten Sie zermürbt und Sie folgerichtig in Resignation, Burnout und Alkoholismus treibt?
Genau das meint Schreiber, denn damit hat er so verstörenden Erfahrungen gemacht, dass er einen Punkt gesetzt und sein Leben radikal umgestellt hat. Er hat auf den Alkohol verzichtet. Ganz.interessante Frage: Wie viele Menschen könnten ihren Job nicht mehr machen, wenn sie sich abends nicht mehr oder weniger betrinken würden? Es geht also darum, sein zu lassen, was Sie kaputt macht.
Esoterisches Geschwafel?
Das ist Ihre Entscheidung. Vielleicht erscheint die individuelle Bewertung, was menschengerechte Arbeit sei, gerade in diesem wohlhabenden Land besonders schwer, weil es eben nicht attraktiv ist, Besitzstände auf den Prüfstand zu stellen. Und wenn es nur Besitzstände einer unguten, unsicheren, entfremdeten Arbeit sind. Verblüffender Weise scheint es aber unter Bedingungen zu gehen, gegen die die deutsche Arbeitsprozesse ziemlich beschaulich sind: in „Chinakinder“ wird beschrieben, dass junge Chinesen aussteigen, selbst nach Antworten suchen (3). In China!
Wie ist es hierzulande wirklich? Täglich können Sie lesen, dass qualifizierte Arbeitskräfte dringend gesucht werden (4)! Teilweise verzweifelt gesucht. Das bedeutet, dass sich grundlegend etwas ändern muss. Der gegenwärtige Arbeitsmarkt, der „vorgibt“, „erwartet“ und „fordert“, ist eben nur der Markt der Gesundheits-Unternehmer, die immer noch nicht kapiert haben, worum es geht.
Am deutlichsten wird das zur Zeit ausgerechnet in einem Berufsbereich, dessen bisherige bundesrepublikanische Realität mit flow und Selbstverwirklichung nicht so sehr viel zu tun hatte, den Pflegeberufen. Da sind so viele ausgestiegen, in andere Berufe oder auch in die Arbeitslosigkeit gegangen, weil sie nicht mehr verantworten oder ertragen konnten, wie sie arbeiten sollten. Und jetzt suchen die großen Anbieter völlig hektisch nach neuen Arbeitskräften. Sie bieten „Kopfprämien“ statt adäquater Arbeitsbedingungen und akzeptabler Bezahlung (5). Abgesehen davon, dass „Kopfprämien“ mehr an tote Indianer als an Pflegekräfte denken lassen, bedienen geldgesteuerte Unternehmen alle Vorurteile, wenn sie auch dann nur an Geld denken, wenn es eigentlich um die Behebung von indiskutablen Arbeitsstrukturen geht.

Dass gerade die Pflege das Potential für Selbstverwirklichung und flow hätte, dass man sie ehrlicher Weise nur dann „gut“ nennen kann, wenn sie beiden, den Kranken, den Dementen und den Pflegenden gerecht wird, beschreibt Arnold Geiger am Beispiel seines demenzkranken Vaters, dem „alten König in seinem Exil“. (6) Da gibt es diese wunderbare Betreuerin Daniela, von der er schreibt: „Die beiden harmonisierten in einem Ausmaß, das einen vor Verwunderung den Kopf schütteln ließ.“ (S. 120)
Also: Pflegekräfte werden dringend gesucht. Was bedeutet das? Wer gesucht wird, ist wertvoll und hat nach den Gesetzen des Marktes die Wahl. Das könnte eine sehr komfortable Situation sein! Das sollten Sie begreifen: Sie sind gefragt und haben die Chance zu verhandeln, was für Sie passt und was gar nicht geht. Und wenn Sie schlau sind, dann befreien Sie sich aus dieser geldlastigen Denke und verhandeln nicht nur übers Gehalt, sondern über Inhalte! Über eine Tätigkeit, eben mehr als ein Job, die Ihnen wirklich entspricht, die Ihnen die Chance gibt, Ihre Fähigkeiten einzubringen und so zu arbeiten, dass Sie sich gut fühlen.
Was ist zu tun?
Finden Sie mal heraus, was Sie wollen. Tauschen Sie sich mit anderen aus, die im gleichen Beruf und in der gleichen Situation sind. Sprechen Sie aus, wie Sie arbeiten wollen, wie Sie Ihre Neigungen und Fähigkeiten in den Arbeitsprofilen realisieren wollen. Wer Sie als qualifizierten Mitarbeiter sucht, muss Ihnen entgegenkommen, oder er wird Sie nicht bekommen. Es kommt wirklich darauf an, dass Sie sich zu Wort melden. Denn nur dann werden Sie in Ihrer Kompetenz und Qualifikation sichtbar. Realisierbar ist nur, was zuvor in den öffentlichen Diskurs eingebracht wird (7). Wenn Sie diesen Diskurs denen überlassen, die wie üblich nur an der Vermehrung des Geldes interessiert sind, wird alles weiter schlechter werden, – von der Medizin bis zu den Schulen, von den Universitäten bis zur Polizei. In diesen – und noch viel mehr – für das Wohlergehen unserer Gesellschaft wichtigen Bereichen geht es heute nur ums Geld. Deswegen verkommen sie, niemand findet in ihnen Spaß an Arbeit, vom flow ganz zu schweigen.
Übrigens: Auch Mediziner werden gesucht. Was bedeutet das? Mediziner haben die Chance, nicht nur über Bezahlung und Arbeitszeiten, sondern über die, in vielen großen Krankenhäusern schlicht indiskutablen Arbeitsbedingungen zu reden. Und sie zu ändern. Allerdings braucht es dazu etwas Solidarität.
Damit Ihre Selbstverwirklichung eine Chance bekommt, existenzfähig zu werden, müssen erst Sie selbst Ihre ganz persönliche Gegenposition zum Geld formulieren und diese Position dann in Ihr persönliches Handeln umsetzen: „Wishing things away is not effective“ steht auf einem Transparent in Peter Lindberghs wunderbarem Foto von Milla Jovovich … (8) Wenn Sie aussprechen, wofür Sie brennen – brennen Sie für etwas? – machen Sie es erst zum Thema und dann zur Wirklichkeit. Und dann können Sie es durchsetzen! Dann, aber auch erst dann, kann Arbeit wieder befriedigend werden.
Hier gelangen Sie zur Übersicht aller bisher veröffentlichten Kapitel.
Quellen:
- Mihaly Csikszentmihalyi: Flow, the psychology of optimal experience, Harper perennial – modern classics, New York 1990, ISBN 978-0-06-016253-5
- Daniel Schreiber, Nüchtern, Suhrkamp Taschenbuch 4671, 2016, ISBN 978-3-518-46671-1
- Chinakinder – Moderne Rebellen in einer alten Welt. Jörg Endriss und Sonja Maaß. Conbook Medien 2017, besprochen von Sonja Maaß in Spiegel online, 17. 10. 2017.
- XING am 10.05.2017: Zahl der offenen Stellen in Deutschland so hoch wie nie zuvor
- Universitätsklinikum Kiel: Kopfprämie für Pflegekräfte und Hebammen. Heike Stüben in kn-online vom 19.08. 2017, Bremen zahlt Kopfprämien für Pflegekräfte. Sabine Doll in weser-kurier.de vom 20.04.2017, 4.000 Euro Kopfprämie für Pflegekräfte aus dem Ausland, lokalo24.de vom 14.04.2017.
- Arnold Geiger, Der alte König in seinem Exil, 2011 Hanser Verlag München, ISBN 978-3-446-23634-9
- Elisabeth Wehling, Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht. Edition medienpraxis 14, Köln: Halem, 2016, ISBN 978-3-86962-208-8
- Peter Lindbergh, A Different Vision of Fashion Photography, Taschen GmbH, Köln 2017 edited by Thierry-Maxime Loriot, ISBN 978-3-8365-5282-0, S. 179